Anatomien
weniger direkt synästhetische Fähigkeiten zu – vermutlich haben sie aber nur medizinische Handbücher konsultiert und sich die entsprechenden Erlebnisse vorgestellt. Unter Synästheten sind Frauen nach neusten Untersuchungen übrigens in der Mehrzahl. Wir alle können ganz unbefangen ein Blumenbeet als farbenfrohe Symphonie beschreiben. Eine Musikrichtung heißt sogar Blues. Vielleicht steckt in jedem von uns ein Synästhet.
Sogar Blinde können synästhetische visuelle Eindrücke habenund zum Beispiel bunte Blitze „sehen“, wenn sie bestimmte Zahlen oder Laute hören. Es wird angenommen, dass Neugeborene Nervenbahnen besitzen, die Hör- und Seheindrücke verbinden und die im Verlauf der Kindheit gekappt werden. Der Neurobiologe Vilayanur Ramachandran, der sich auch mit Phantomschmerzen beschäftigt hat, beschreibt den bemerkenswerten Fall eines blinden Patienten, der bei Berührungen oder beim Lesen von Blindenschrift helle Blitze oder lebhafte Bilder sah (allerdings keine Bilder des berührten Gegenstandes). Solche Erfahrungen legen die Vermutung nahe, dass die Nervenbahnen, die aus dem geschädigten Auge ins Gehirn führen, von Hör- oder Tasteindrücken übernommen wurden. Andere Blinde besitzen ein feineres Gehör – das auf ihre verbesserte Fähigkeit zurückgeht, Geräusche zu verarbeiten, die mit der für sie entscheidend wichtigen räumlichen Orientierung zu tun haben. Diese Beobachtungen legen nahe, dass die sogenannte „Neuroplastizität“ nicht einfach Sinnesfunktionen hier und da verknüpft, sondern die Leistungsfähigkeit des Gehirns wiederherstellen oder aufrechterhalten kann.
Magen
Es ist nicht ganz klar, wann das ernsthafte wissenschaftliche Projekt des gelehrten Klerikers William Buckland, mindestens einmal in seinem Leben etwas von allem zu essen, zur reinen Albernheit verkam.
Buckland war ein angesehener Geologe und der erste Oxforder Professor seines Faches. In seinem Hauptwerk Vindiciae Geologiae entwickelte er eine neue geologische Theorie: Die Fossilien seien schon vor der Sintflut entstanden, doch die Bibel sei trotzdem wörtlich zu nehmen. Bucklands scharfsinnige Interpretation beruhte darauf, dass der in der Genesis genannte „Anfang“ in unbestimmter Vergangenheit liege, und zwar zwischen der Erschaffung der Erde und der Ankunft des Menschen und anderer heutiger Lebensformen. Er identifizierte als Erster sogenannte Koprolithe (versteinerte Fäkalien) – ohne sie wüssten wir nicht, wovon die Dinosaurier sich ernährt haben. Vor dem Hintergrund rapide ansteigender Getreidepreise sprach er sich für eine Landwirtschaft nach wissenschaftlichen Maßstäben aus, für angemessene Be- und Entwässerungssysteme und für Landzuweisungen für die „tätigen Armen“. All das trug zu Bucklands gutem Ruf bei, er stieg in Universität und Kirche auf und wurde Kanonikus des Oxforder Christ Church Colleges und später Dekan von Westminster.
Buckland setzte sich immer wieder gegen die Konventionen der Oberschicht zur Wehr. Während er noch versuchte, es jedem recht zu machen und die biblische Schöpfungsgeschichte mit der geologischen Beweislage übereinzubringen, verfolgte er seinen Plan, das Fleisch eines jeden Tieres einmal zu versuchen. Trotz seiner wissenschaftlichen Fertigkeiten führte er über sein ausgedehntes Geschmacksexperiment offenbar nicht systematisch Buch. Das wenige, was wir wissen, stammt aus Anekdoten, die Bucklands Angehörige überlieferten. Man könnte das Projekt als Teil des Versuchs sehen, neue Nahrungsquellen für die Armen zu erschließen, aber vielleicht war es auch einfach ein Spleen. Er versuchte Igel, Krokodil, Panther, Welpe und Nacktschnecke. Dem Naturforscher Richard Owen bot er gebratenen Vogel Strauß an, der wie „zäher Truthahn“ schmecke. Der Kunstkritiker John Ruskin verpasste zu seinem Bedauern ein Abendessen, bei dem „ein exquisiter Mäusetoast“ serviert wurde.
Buckland scheute sich nicht, seine Zeitgenossen zu schockieren. In einer Kathedrale zeigte man ihm „das Blut eines Märtyrers – dunkle Flecken auf dem Boden, die nie trockneten oder verschwanden“. Buckland war skeptisch, kniete sich hin, leckte die Stelle ab und stellte umgehend fest: „Ich kann Ihnen sagen, was das ist: Fledermausurin.“ Von einem ganz besonderen Mahl erfuhr man erst fünfzig Jahre nach seinem Tode. Der Schriftsteller Augustus Hare erinnerte sich an ein Abendessen bei Lady Lyndhurst in Nuneham bei Oxford, wo angeblich das Herz eines französischen
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