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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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nach außen aus. An der freigelegten Hinterseite positionierte er ein Stück dünne, weiße Eierschale. Was hell vor dem Auge lag, bildete sich verkleinert und auf dem Kopf stehend, aber originalgetreu auf der Schale ab. Über das Experiment schrieb er: „Dort werden Sie, vielleicht nicht ganz ohne Bewunderung und Vergnügen, ein Bild sehen, das auf ganz unverstellte Weise alles wiedergibt, was sich außen befindet.“
    Das innere Bild entsteht durch Lichtbrechung, deshalb steht es auch auf dem Kopf. Das Bild von uns selbst, das wir sehen, wenn wir jemandem tief in die Augen schauen, entsteht dagegen durch Reflexion. Dieses kleine Ebenbild hat das Wort Pupille angeregt, das vom lateinischen pupilla, Püppchen, abstammt. Im Englischen gab es im 17.

Jahrhundert den schönen Ausdruck „to look babies at somebody“, jemanden liebevoll ansehen. Das bedeutet nicht, dass man mit diesem Menschen Nachkommen zeugen will, sondern dass man in seinen Augen die kleine menschliche Gestalt sieht.
    Ich würde das Experiment gern wiederholen. Crawford White, der preisgekrönte Metzger bei mir um die Ecke, hat sich an meine ausgefallenen Wünsche gewöhnt, und so verzieht er keine Miene, als ich ihn um Ochsenaugen bitte. Er könne sie mir jedoch nicht besorgen, vielleicht aufgrund der BSE-Gefahr. Schweineaugen hätte er aber da. Zu Hause öffne ich vorsichtig den kleinen Beutel, aus dem mich vier Paar rollende Augen anschauen. Jedes Auge ist etwa so groß wie eine Weinbeere, also deutlich kleiner als ein Ochsenauge, was die Sektion unter Umständen erschweren wird. DreiViertel der Augenoberfläche sind von einer weißen Schicht bedeckt wie von einer Eiskappe. Aus der Mitte dieser Fläche ragt der Stummel des Sehnervs hervor. Die Vorderseite des Auges ist klar und besitzt eine schwarzgraue, glänzende Tiefe.
    Ich nehme eines der Augen heraus und schneide das daran hängende Fleisch und Fett weg. Dann drücke ich es vorsichtig zusammen, sodass die Oberfläche etwas fester wird, und schneide in die weiße Membran, die die durchsichtige Kugel schützt. Sie ist ziemlich hart, und ich habe etwas Angst davor, zu viel Druck auszuüben und die innere Membran mit dem Skalpell zu beschädigen. Und dann passiert es tatsächlich, und eine dicke Flüssigkeit ergießt sich aus dem Auge. Ich greife zu Auge Nummer zwei und fange von vorne an. Wieder passiert dasselbe. Jetzt versuche ich, das weiße Gewebe nicht wegzuschneiden, sondern es abzurasieren. Das geht etwas besser, und beim vierten Versuch schabe ich schließlich genug von der Hinterseite des Auges ab, um gerade so eben durch die verbleibende Schicht hindurchschauen zu können.
    Schließlich gehe ich mit dem kleinen Auge zu dem Pappkarton, den ich vorbereitet habe. In dessen Vorderseite habe ich ein augengroßes Loch geschnitten, in seine Rückseite ein dreieckiges, nach oben zeigendes Loch, hinter das ich ein helles Licht stelle. Ich positioniere das Auge in das Loch, sodass es durch den Karton auf das Licht „schaut“, und dann stelle ich mich direkt dahinter. Zu meiner Freude sehe ich das verschwommene Bild eines nach unten zeigenden Dreiecks auf der weißen Schicht.
    „Da wir nun dieses Bild im Auge eines toten Tiers gesehen und die Gründe dafür verstanden haben, besteht kein Zweifel mehr daran, dass es sich bei einem lebenden Menschen genauso verhält.“ Descartes entdeckte, dass das Auge wie eine Camera obscura funktioniert und ein auf dem Kopf stehendes Bild der Außenwelt auf seine eigene Hinterseite wirft. Seiner Dioptrique fügte er ein Strahlendiagramm bei, das diesen Vorgang erläutern sollte. Es ist deutlicher und schöner als die Schaubilder in den wenigen heutigen Anatomiebüchern, die sich mit der Physik des Körpers beschäftigen. In einer Version des Schaubilds hat Descartes’ Illustrator den Kopf eines winzigen Mannes gezeichnet, der auf die Hinterseite des Auges und das auf dem Kopf stehende Bild dort hochschaut. Er sieht aus wie ein Astronom, der in den Himmel blickt.
    Das kleine Männchen hinter unserem Auge ist eigentlich ein Paradox. Denn womit sollte dieses Männchen etwas sehen, wenn nicht mit seinen eigenen Augen? Hat die Seele ebenso wie der Mensch eigene Augen? Descartes staunt: „Es ist, als hätte das Gehirn selbst Augen.“ Irgendwie wird das Bild jedenfalls so umgewandelt, dass es vom Gehirn in die Seele weitergeleitet werden kann, die laut Descartes in der Zirbeldrüse sitzt. Heute wissen wir, dass dieses erbsengroße Organ für die Freisetzung

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