Anatomien
geformt war, dass der Eindruck von Augenlidern und Augenbrauen entstand. Wenn man das Kästchen aufmachte, sah das ein bisschen gruselig aus. Galton musste sicherstellen, dass die Bezeichnungen, die er aus der großen Menge jemals von Behörden und Familienforschern verwendeter Namen aussuchte, auch die in der Natur wichtigen Farben trafen. Anders als wir vermuten würden, sprach er aber nicht von braunen oder blauen Augen, sondern von dunklen oder hellen, wobei er das in der Mitte liegende Haselnussbraun beiden Seiten zuschlug. Dann verglich er Kinder mit ihren Eltern und Großeltern und wendete die üblichen statistischen Tricks an. Doch das magere Ergebnis war, dass sowohl blaue als auch braune Augen sich über mehrere Generationen hinweg nachweisen ließen.
Galtons Frage wurde erst 2008 endgültig beantwortet, als ein Team von (überwiegend blauäugigen) Forschern der Universität Kopenhagen die Mutation eines bestimmten Gens entdeckte, das ein die Melaninproduktion regulierendes Protein betrifft. Viele Babys, auch von braunäugigen Eltern, haben zunächst blaue Augen, weil das Protein noch nicht in ausreichender Menge freigesetzt wird. Nach Ansicht Hans Eibergs, des Leiters der Forschungsgruppe, ergibt sich aus der Entdeckung, dass alle heute lebenden blauäugigen Menschen ihren Stammbaum auf einen einzigen gemeinsamen Vorfahren zurückführen können, bei dem die Mutation vor sechzehn- bis zehntausend Jahren erstmals auftrat.
Was in der Natur dem Zufall unterliegt, ist vielleicht auch in der Kultur nicht so wichtig, wie wir denken. Becky Sharp im Jahrmarkt der Eitelkeiten hat grüne, Anna Karenina graue, James Bond blaue Augen. Je schlechter der Roman, desto genauer offenbar die Beschreibung. Judith Krantz’ Princess Daisy hat „dunkle Augen, nicht wirklich schwarz, eher wie die Farbe des innersten Herzens eines riesigen Stiefmütterchens“. Über die Augenfarbe vieler berühmter Romanhelden wissen wir dagegen erstaunlich wenig. Mr Darcy in Stolz und Vorurteil denkt, Elizabeth Bennet habe ganz einfach „schöne Augen“. Julian Barnes verwendet in seinem Roman Flauberts Papagei viel Energie darauf, Emma Bovarys Augen zu beschreiben – offenbar ist der Literaturkritiker Barnes besonders stolz auf seine Entdeckung, dass Flaubert ihre Augen mal blau, mal schwarz und mal braun nennt. Barnes meint, das sei gar nicht so wichtig. Jedenfalls müssen wir nicht genau wissen, welche Augenfarbe sie hat, um sie (oder uns mit ihr) zu identifizieren. Emmas Augen sind so, wie Flaubert sie an einem bestimmten Punkt in der Geschichte aus nur ihm bekannten Gründen haben will. In Tess drückt sich Thomas Hardy um die Beschreibung der Augen seiner Heldin, die „weder schwarz noch blau oder grau oder violett waren, vielmehr alle diese Farbtöne vereinten und noch hundert andere, die man sehen konnte, wenn man in ihre Iris blickte – da sah man Farbton auf Farbton, in allen Nuancen, um die Pupillen, die bodenlos waren; beinahe das Muster einer Frau …“ Wenn ein Autor uns vermitteln will, dass seine Heldin keineswegs außergewöhnlich ist, sind ungenaue Angaben über ihre Augenfarbe ein guter Anfang.
Es gibt Anzeichen dafür, dass unser Sehsinn im Laufe der Evolution wichtiger wurde, und zwar auf Kosten anderer Sinne. Viele unserer Gene haben mit der Verarbeitung von Gerüchen zu tun, aber imVergleich mit den wenigen, die für optische Eindrücke zuständig sind, machen wir von ihnen kaum Gebrauch. Die Fähigkeit unseres Gehirns, optische Signale zu verarbeiten, hat sich besonders schnell verbessert. Unsere Augen konnten mit unserem wachsenden Durst nach visuellen Informationen kaum mithalten, deshalb gibt es in einer immer stärker von visueller Kommunikation geprägten Welt so viele Brillenträger.
Um herauszufinden, inwiefern nicht die Augen, sondern erst das Gehirn visuelle Eindrücke verarbeitet und inwiefern sie mit anderen Sinneseindrücken zusammenhängen, besuche ich das Cross-Modal Research Laboratory an der Universität Oxford. Das winzige Labor sieht aus wie eine Mischung aus Spielwarenladen und Kiosk, so vollgepackt ist es mit alltäglichen Geräten und vertrauten Lebensmitteln. Sein Leiter ist Charles Spence, ein Professor für Experimentalpsychologie. Bei unserem Treffen trägt er seine berühmten roten Hosen, und er spricht in irritierendem Stakkato. Er erklärt, dass wir unsere fünf Sinne (also Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen – nach anderen Vorstellungen verfügen wir über viele
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