Anbetung
hinunterzuschlucken, musste ich an Gunther Ulstein denken, einen allseits beliebten Musiklehrer an der Highschool, deren Band er geleitet hatte. Irgendwann hatte Ulstein Schwierigkeiten beim Schlucken bekommen, die sich im Verlauf mehrerer Wochen zusehends verschlimmerten. Als er sich endlich untersuchen ließ, hatte sein Speiseröhrenkrebs sich bereits bis in den Kehlkopf ausgebreitet.
Weil er nicht schlucken konnte, verlor er schlagartig Gewicht. Behandelt wurde er mit Bestrahlungen; anschließend hatten die Ärzte vor, die gesamte Speiseröhre zu entfernen und aus einem Teil des Dickdarms eine neue zu basteln. Die Bestrahlungstherapie scheiterte jedoch, und Ulstein starb schon vor der Operation.
Abgemagert und ausgedörrt, wie er es in seinen letzten Tagen war, sitzt Gunny Ulstein normalerweise in einem Schaukelstuhl auf der vorderen Veranda des Hauses, das er selbst gebaut hat. Mary, die Frau, mit der er dreißig Jahre verheiratet war, wohnt noch immer dort.
In den letzten Lebenswochen hat Ulstein seine Fähigkeit zu sprechen verloren. Es gab noch so viel, was er Mary sagen wollte – dass sie immer das Beste in ihm zum Vorschein gebracht habe und wie sehr er sie liebe –, aber es gelang ihm nicht, seine Gefühle so fein und differenziert niederzuschreiben, wie er sie in Worten hätte ausdrücken können. Nun sitzt er dort herum, grämt sich über das, was er nicht hatte sagen können, und hofft vergeblich, auch als Geist eine Möglichkeit zu finden, mit Mary zu sprechen.
Eine solche stummmachende Krankheit kam mir fast wie ein Segen vor, wenn sie mich nur daran gehindert hätte, Sonny Wexler zu fragen: »Was ist passiert?«
»Ich dachte, du hast es schon gehört«, sagte er. »Ich dachte, dass du deshalb gekommen bist. Jemand hat auf den Chief geschossen. «
Jesus Bustamante, einer der anderen Beamten, fügte wütend hinzu: »Vor ’ner knappen Stunde hat irgendein verfluchter Bastard dem Chief drei Schüsse in die Brust gejagt, da drüben auf seiner Veranda!«
Mein Magen drehte sich um und um und um, fast im Takt des rotierenden Rotlichts auf dem Streifenwagen. Die eingebildete Verstopfung in meiner Speiseröhre wurde Wirklichkeit, weil mir jetzt bitterer Schleim in den Schlund stieg.
Offenbar wurde ich bleich und stand zitternd auf plötzlich weichen Knien, jedenfalls legte mir Jesus den Arm an den Rücken, um mich zu stützen, und Sonny Wexler sagte: »Ruhig, Junge, ganz ruhig, der Chief ist am Leben. Es hat ihn
schlimm erwischt, aber er ist am Leben, er ist eben ein echter Kämpfer.«
»Er wird gerade operiert«, sagte Billy Munday. Das Feuermal, das über ein Drittel seines Gesichts bedeckte, schien in der Nacht seltsam zu leuchten. Er sah aus wie ein rot geschminkter Schamane, der Warnungen, Vorzeichen und drohende Übel zu verkünden hatte. »Er wird schon wieder gesund. Muss er einfach. Weil – es geht ja gar nicht ohne ihn.«
»Er ist ein Kämpfer«, wiederholte Sonny.
»Welches Krankenhaus?«, fragte ich.
»County General.«
Ich rannte zum Wagen, der mitten auf der Straße stand.
40
Heutzutage ähneln die meisten neuen Krankenhäuser in Südkalifornien mittelprächtigen Großmärkten, in denen günstige Teppichböden oder Büromaterial en gros vermarktet werden. Die nichts sagende Architektur flößt keinerlei Vertrauen ein, dass hinter solchen Mauern Heilung stattfinden könnte.
Als ältestes Hospital der Gegend besitzt das County General noch einen eindrucksvollen Vorbau mit Kalksteinsäulen und einen klassizistischen Fries, der um das ganze Gebäude läuft. Schon beim ersten Anblick weiß man, dass hier Krankenschwestern und Ärzte arbeiten, kein Verkaufspersonal.
Die Eingangshalle ist mit Travertinfliesen ausgelegt statt mit extrem strapazierfähigem Teppichboden; ein eingelegter Merkurstab schmückt die Travertinfront der Empfangstheke.
Noch bevor ich die Theke erreichte, wurde ich von Alice Norrie abgefangen, einer bewährten Mitarbeiterin der Polizei von Pico Mundo. Offenbar hatte sie den Auftrag, Reporter und unbefugte Besucher daran zu hindern, weiter als bis zur Eingangshalle vorzudringen.
»Er ist im Operationssaal, Odd. Da wird er auch noch eine Weile bleiben.«
»Wo ist Mrs. Porter?«
»Karla ist im Wartezimmer der Intensivstation. Dort wird man ihn nach der Operation gleich hinbringen.«
Die Intensivstation befand sich im dritten Stock. In einem
Ton, der ausdrückte, sie müsste mich schon verhaften, um mich aufzuhalten, sagte ich: »Ma’am, ich gehe jetzt da
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