Anbetung
rauf.«
»Du musst mir gar nicht auf die Zehen treten, um da hinzukommen, Odd. Du stehst nämlich auf der Liste, die Karla mir gegeben hat.«
Ich fuhr mit dem Aufzug in den ersten Stock, wo die Operationssäle untergebracht sind.
Den richtigen Saal zu finden war einfach. Rafus Carter stand vor der Tür Wache, in Uniform und massig genug, um einem tobenden Stier Paroli zu bieten.
Als ich durchs grelle Neonlicht auf ihn zuging, legte er die Hand an den Griff seiner im Halfter steckenden Pistole.
Er sah, wie ich auf seinen Argwohn reagierte, und sagte: »Nichts für ungut, Odd, aber nur wenn Karla den Flur da langkäme, würde ich ruhig stehen bleiben.«
»Du meinst, er hat den Burschen, der auf ihn geschossen hat, gekannt?«
»Muss wohl so sein, und das heißt, es ist wahrscheinlich jemand, den auch ich kenne.«
»Wie geht es ihm?«
»Schlecht.«
»Er ist ein Kämpfer«, betete ich Sonny Wexlers Mantra nach.
»Hoffentlich«, sagte Rafus Carter.
Ich ging zum Aufzug zurück. Zwischen dem zweiten und dritten Stock drückte ich die Stopptaste.
Ein unkontrollierbares Zittern nahm mir jede Kraft. Mit weichen Knien rutschte ich an der Kabinenwand entlang, bis ich auf dem Boden saß.
Im Leben, sagt Stormy, geht es nicht darum, wie schnell man läuft oder wie gut man dabei aussieht. Es geht um Beharrlichkeit, darum, auf den Beinen zu bleiben und durchzuhalten, egal, was auch geschieht.
In Stormys Kosmologie ist das Leben schließlich ein Ausbildungslager. Übersteht man nicht tapfer alle Hindernisse und Wunden, die es einem zufügt, dann kann man nicht in das nächste, abenteuerliche Leben weiterziehen, das sie »Dienst« nennt, und auch nicht in das dritte Leben, mit dem nicht mal ein Becher Kokos-Kirsch mit Schokosplittern konkurrieren kann – so voller Freuden und Herrlichkeiten ist es ihrer Meinung nach.
Egal, wie scharf die Schicksalswinde wehen und wie schwer das Gewicht der Erfahrungen wird, Stormy bleibt immer auf den Beinen, zumindest im übertragenen Sinn. Im Gegensatz zu ihr stelle ich fest, dass ich manchmal eine Pause einlegen muss, um letzten Endes durchzuhalten.
Ich wollte ruhig, gefasst, stark und voll positiver Energie sein, wenn ich mit Karla zusammentraf. Sie brauchte Unterstützung, keine Tränen des Mitgefühls oder des Kummers.
Nach zwei, drei Minuten war ich ruhig und halbwegs gefasst, was aber ausreichen musste. Ich stand auf, setzte den Aufzug wieder in Bewegung und fuhr weiter in den dritten Stock.
Das triste Wartezimmer gleich neben der Intensivstation wies blassgraue Wände und einen Boden aus grau-schwarz gesprenkelten Vinylfliesen auf. Dazu kamen graue und lehmbraune Stühle. Die Atmosphäre sagte: Tod . Irgendjemand hätte dem Innenarchitekten des Krankenhauses eins überbraten sollen.
Eileen Newfield, die Schwester des Chiefs, saß mit verweinten roten Augen in der Ecke. In den Händen zwirbelte sie zwanghaft ein besticktes Taschentuch.
Neben ihr saß Jake Hulquist und murmelte beruhigende Worte. Er ist der beste Freund des Chiefs. Die beiden sind im selben Jahr in den Polizeidienst getreten.
Jake trug keine Uniform, sondern ein T-Shirt über einer beigefarbenen Sporthose. Die Schnürsenkel seiner Turnschuhe waren offen. Sein Haar stand in merkwürdigen Wirbeln und Spitzen vom Kopf ab, als hätte er nach dem Anruf keine Zeit mehr gehabt, sich zu kämmen.
Karla sah aus wie immer: frisch, schön und selbstbeherrscht.
Ihre Augen waren klar; sie hatte nicht geweint. Sie war in erster Linie die Ehefrau eines Polizisten und erst in zweiter Linie eine Frau; solange Wyatt um sein Leben kämpfte, würde sie nicht in Tränen ausbrechen, weil sie im Geiste neben ihm kämpfte.
Sobald ich durch die offene Tür trat, kam Karla auf mich zu und umarmte mich. »Ätzend, was, Oddie? Sagt man das nicht in deinem Alter, wenn so was passiert ist?«
»Ätzend«, stimmte ich zu. »Total.«
Aus Rücksicht auf Eileens angeschlagenen Gefühlszustand lotste Karla mich in den Flur, wo wir uns ungestört unterhalten konnten. »Er hat auf seiner Notfallnummer einen Anruf bekommen, kurz vor zwei Uhr morgens«, berichtete sie.
»Von wem?«
»Keine Ahnung. Das Klingeln hat mich bloß halb aufgeweckt. Er hat gesagt, ich soll wieder einschlafen, alles wäre in Ordnung.«
»Wie viele Leute kennen diese Nummer?«
»Nicht viele. Er ist nicht zum Kleiderschrank gegangen, um sich anzuziehen, sondern im Schlafanzug aus dem Zimmer marschiert. Deshalb hab ich gedacht, er geht nicht weg, weil es nämlich
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