Anbetung
erstaunlich dick und glatt.
»Sieht aus, als wären sie aus Wachs modelliert«, sagte ich.
»Genau. Sie sind vollkommen, nicht wahr, Schatz? Ich liebe alle meine Rosen, aber die noch mehr als jede andere.«
Nicht nur, weil das ihre Lieblingsrose war, mochte ich sie weniger als die anderen. Ihre Vollkommenheit kam mir künstlich vor. Die sinnlichen Falten ihrer Blütenblätter versprachen Geheimnis und Befriedigung in ihrer verborgenen Mitte, aber das schien ein falsches Versprechen zu sein; die winterliche Weiße, die wächserne Starrheit und der fehlende Duft erinnerten nämlich nicht an Reinheit oder Leidenschaft, sondern an den Tod.
»Die ist für dich«, sagte meine Mutter und zog eine kleine Rosenschere aus der Tasche ihres Sommerkleids.
»Nein, schneid sie nicht ab! Lass sie wachsen. Die ist viel zu schade für mich.«
»Unsinn. Du musst sie deiner Freundin geben. Wenn man sie richtig überreicht, kann eine einzelne Rose die Gefühle eines Verehrers klarer zum Ausdruck bringen als ein ganzer Strauß.«
Sie knipste mit der Blüte zwanzig Zentimeter Stängel ab.
Ich nahm die Blume entgegen und hielt sie mit Daumen und Zeigefinger knapp unterhalb der Blüte zwischen dem obersten Stachelpaar.
Als ich einen Blick auf meine Uhr warf, sah ich, dass die träge Sonne und die parfümierten Blumen nur den Eindruck erweckten, die Zeit schleiche dahin. In Wirklichkeit befand sie sich in vollem Galopp. Womöglich war Robertsons Mordkomplize bereits in diesem Augenblick unterwegs zu seiner schändlichen Tat.
Mit der Anmut und dem milden Lächeln einer Königin ging meine Mutter durch ihr Rosarium und bewunderte die nickenden Köpfe ihrer farbenprächtigen Untertanen. »Wie schön, dass du gekommen bist, Schatz«, sagte sie. »Was hat dich denn hierher geführt?«
Ich hielt mich neben, aber gleichzeitig einen halben Schritt hinter ihr. »Das weiß ich auch nicht genau«, sagte ich. »Ich habe ein Problem …«
»Probleme sind hier nicht zugelassen«, sagte sie in leicht tadelndem Ton. »Vom Gehsteig bis zum Zaun da hinten sind dieses Haus und sein Garten eine sorgenfreie Zone.«
Obwohl ich mir der Risiken bewusst war, hatte ich uns auf gefährliches Terrain geführt. Der gemahlene Granit unter mir kam mir vor wie Treibsand.
Ich wusste nicht, wie ich sonst vorgehen sollte, und ich hatte nicht die Zeit, unser Spiel nach den Regeln meiner Mutter zu spielen.
»Ich muss mich an etwas erinnern oder irgendetwas tun«, sagte ich, »aber da bin ich innerlich blockiert. Die Intuition hat mich hierher geführt, weil … Ich glaube, irgendwie kannst du mir dabei helfen, herauszubekommen, was ich bisher übersehen habe.«
Meine Worte können für sie kaum verständlicher gewesen sein als reines Geschwätz. Wie mein Vater weiß sie nichts von meiner paranormalen Gabe.
Schon als kleines Kind habe ich gemerkt, dass ich ihr Leben nicht mit der Wahrheit über meinen Zustand komplizieren durfte, sonst hätte die Last dieses Wissens ihr den Tod gebracht. Oder mir.
Sie hat schon immer nach einem Leben gestrebt, in dem für Stress und Streit keinerlei Platz ist. Deshalb lehnt sie jede Verpflichtung gegenüber anderen Menschen ab und übernimmt keine Verantwortung außer für sich selbst.
Als Egoismus würde sie das nie bezeichnen. Aus ihrer Sicht handelt es sich um Selbstverteidigung, weil sie findet, dass die Welt viel mehr Forderungen an sie stellt, als sie ertragen kann.
Würde sie das Leben mit all seinen Konflikten voll und ganz annehmen, dann wäre ein Zusammenbruch unvermeidlich. Deshalb handhabt sie die Welt mit der kalten Berechnung einer rücksichtslosen Autokratin und bewahrt ihre gefährdete geistige Gesundheit, indem sie sich in einen Kokon aus Gleichgültigkeit einspinnt.
»Könnten wir uns nicht einfach eine Weile unterhalten?«, fragte ich. »Vielleicht kann ich dann herauskriegen, wieso ich hierher gekommen bin und wieso ich gedacht habe, dass du mir irgendwie helfen kannst.«
Die Stimmung meiner Mutter kann sich von einem Augenblick auf den anderen völlig ändern. Da die Rosenkönigin zu zart war, um mit der Herausforderung fertig zu werden, zog sich diese sonnige Gestalt zurück und räumte den Platz für eine zornige Göttin.
Meine Mutter betrachtete mich mit zusammengekniffenen Augen und schmalen, blutleeren Lippen, als brauchte es nur einen grimmigen Blick, um mich loszuwerden.
Unter gewöhnlichen Umständen hätte dieser Blick mich tatsächlich auch dazu gebracht, die Beine in die Hand zu
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