Anbetung
entdeckte sie gerade nicht den eigenen Schädel, sondern das Antlitz des Todes, das diesen bereits langsam ersetzte. »… irgendeine Hoffnung, dass das an mir vorübergeht?«
»Das Schicksal ist keine schnurgerade Straße«, sagte ich und wurde damit zu dem Orakel, das ich Viola mittags noch verweigert hatte. »Es hat Gabelungen mit vielen unterschiedlichen Wegen zu unterschiedlichen Zielen. Wir haben den freien Willen, einen Weg zu wählen.«
»Tu, was Oddie sagt«, riet Stormy, »und es wird dir nichts geschehen.«
»So einfach ist das nicht«, sagte ich schnell. »Man kann zwar einen anderen Weg wählen als geplant, aber manchmal macht der eine Kehre und führt einen schnurstracks zu demselben hartnäckigen Schicksal.«
Viola betrachtete mich mit überschwänglichem Respekt, womöglich gar mit Ehrfurcht. »Ich war mir einfach sicher, dass du über solche Dinge Bescheid weißt, Odd, über alles, was übernatürlich und jenseitig ist.«
Peinlich berührt von ihrer Bewunderung, ging ich zum anderen offenen Fenster. Vor dem Haus stand Terris Mustang unter einer der Straßenlaternen. Alles ruhig. Nichts, um sich Sorgen zu machen. Nichts und alles.
Wir hatten dafür gesorgt, dass niemand uns vom Bowlingcenter zu Violas Haus folgen konnte. Trotzdem war ich beunruhigt, immerhin war ich von Robertsons Erscheinen vor Little Ozzies Haus und später auf dem Kirchhof überrascht worden, und ich konnte es mir nicht leisten, ein drittes Mal überrascht zu werden.
»Viola«, sagte ich und sah sie an, »deine Pläne für morgen zu ändern reicht nicht aus. Du musst auch wachsam sein und auf alles achten, was dir irgendwie … falsch vorkommt.«
»Ich bin sowieso schon nervös wie ein Sack Flöhe.«
»Das ist nicht so gut. Nervös ist nicht dasselbe wie wachsam.«
Viola nickte. »Das stimmt.«
»Du musst so ruhig wie irgend möglich sein.«
»Ich versuch’s. Ich tue mein Bestes.«
»Ruhig und aufmerksam – bereit, schnell auf jede Gefahr zu reagieren, aber auch ruhig genug, um sie kommen zu sehen.«
Wie sie da auf der Sesselkante saß, sah sie immer noch so nervös wie ein Sack Flöhe aus.
»Morgen früh«, sagte Stormy, »bringen wir dir ein Foto von einem Mann, nach dem du Ausschau halten solltest.« Sie sah mich an. »Kannst du ihr ein gutes Bild von ihm besorgen, Oddie?«
Ich nickte. Der Chief würde mir sicherlich einen Computerausdruck des vergrößerten Fotos von Robertson überlassen, das er von der Führerscheinstelle bekommen hatte.
»Welcher Mann?«, wollte Viola wissen.
So anschaulich wie möglich beschrieb ich ihr den Pilzmann, der während der ersten Schicht, bevor Viola zur Arbeit gekommen war, bei uns im Grill gegessen hatte. »Wenn du ihn siehst«, schloss ich, »mach, dass du fortkommst. Dann ist nämlich das Schlimmste zu befürchten. Ich glaube allerdings nicht, dass heute Nacht noch etwas geschieht. Jedenfalls nicht hier. Alles weist darauf hin, dass er darauf aus ist, in die Schlagzeilen zu kommen, indem er an einem öffentlichen Ort zuschlägt, irgendwo, wo viele Menschen sind.«
»Geh morgen nicht ins Kino«, sagte Stormy.
»Das tue ich bestimmt nicht«, versicherte Viola ihr.
»Und in den Grill zum Essen gehen solltest du auch nicht.«
Obwohl mir nicht klar war, was es bringen sollte, einen Blick auf Nicolina und Levanna zu werfen, wusste ich plötzlich, dass ich das Haus nicht verlassen durfte, ohne sie gesehen zu haben. »Viola, darf ich mal die Mädchen sehen?«, fragte ich.
»Jetzt? Die schlafen längst!«
»Ich werde sie nicht aufwecken. Aber es ist … wichtig.«
Viola stand auf und führte uns in das Zimmer, das sich die Schwestern teilten: zwei Lampen, zwei Nachttische, zwei Betten und zwei wunderschöne kleine Mädchen, die in ihrer Unterwäsche schliefen, unter Laken, aber ohne Decken.
Eine der Lampen brannte, wenn auch stark gedimmt. Ihr aprikosenfarbener Schirm warf ein weiches, heimeliges Licht.
Die beiden Fenster standen wegen der heißen Nacht offen. Substanzlos wie ein Geist schlug eine durchscheinend weiße Motte mit den Flügeln unablässig ans Fliegengitter, mit der Verzweiflung einer verlorenen Seele, die gegen die Himmelstore flatterte.
An der Innenseite der Fenster waren Stahlstäbe montiert, um zu verhindern, dass ein Mann wie Harlo Landerson den Mädchen ein Leid antun konnte. Im Notfall konnten sie mit einem Bügel geöffnet werden, an den man von außen nicht herankam.
Fliegengitter und Stahlstäbe konnten Motten und Verrückte abwehren, aber
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