anderbookz Short Story Compilation
er etliche Truhen und Kisten im Haus seiner Eltern durchwühlt hatte, ein Kostüm in die Hände gefallen war, das auf den letzten Knopf genau dem des ›Weihnachtsmannes‹ entsprach, der am letztjährigen Weihnachtsabend zu den Boyds gekommen war. »Meine Seele«, schrieb der junge Gewinner des Pulitzer-Preises, »war hin und her gerissen zwischen Wut und Furcht. Der Gedanke, daß mir und meinen Brüdern und Schwestern auf der ganzen Welt jahrelang was vorgegaukelt worden war, machte mich wütend. Dann, als ich die Schwierigkeiten überblickte, die mir gegenüberstanden, fing ich vor Furcht zu zittern an. Wäre mir klar gewesen, daß mich die Spur der Schuld ans Schlafzimmer meines Vaters führen würde, hätte ich vielleicht einen Rückzieher gemacht. Natürlich war in mir schon früher ein Verdacht aufgekommen.«
Aber pure Verdächtigungen, so stichhaltig sie auch sein mochten, reichten Bobby und Michelle nicht aus. Sie wollten Beweise. Nach monatelanger, harter und herzzerbrechender Arbeit hatten sie nur Gerüchte, Andeutungen und widersprüchliche Behauptungen zu Tage gebracht. Dann, Mitte November, als sich die Geschäfte schon für Weihnachten rüsteten, traf Michelle mit einem mysteriösen Mann namens Clayton E. Forster zusammen. Forster gestand, daß er wiederholtermaßen Rolle und Namen des Weihnachtsmannes angenommen habe und daß dieser Betrug aus Geldern finanziert worden sei, die prominente New Yorker Geschäftsleute eigens zu diesem Zweck zurückgelegt hätten. Auf die Frage, ob er jemals den echten Weihnachtsmann getroffen oder mit ihm gesprochen habe, antwortete Forster geradeheraus, daß es den nicht gebe. Forster konnte seine Behauptungen nicht öffentlich wiederholen; daran hinderten ihn städtische Beamte (er wurde nämlich wegen Landstreicherei ins Gefängnis gesteckt). Doch Michelle hatte das Interview auf Tonband aufgenommen, und so waren die Reporterkollegen in der Lage zu hören, wie der selbsternannte Glücksritter zu Protokoll gab: »Weihnachtsmann? Mensch, Kinder, das ist doch alles bloß ein Haufen ... (zensiert)! Wacht auf! Es gibt keinen ... (zensiert), und den hat es auch nie gegeben. Dahinter stecken eure ... (zensiert) Eltern!«
Das entscheidende Argument führte allerdings Bobby ins Feld, und zwar mit der Veröffentlichung von verschiedenen Auszügen der Kreditkartengesellschaft, die Mr. Oscar Boyd unter anderem mit dem Preis für ›2 Trällertröten und 3 Brummkreisel‹ belasteten. Diese Einkäufe, erledigt in der ersten Dezemberwoche vergangenen Jahres, stimmten im Detail überein mit den angeblich vom Weihnachtsmann überbrachten Geschenken für die Boyd-Kinder. »Natürlich sind das alles bloß Indizien«, räumte Barry ›Beaver‹ Collins, der Chefredakteur von Our Own Times ein. »Dennoch glauben wir, daß ein Punkt erreicht ist, der uns zwingt, die Öffentlichkeit zu informieren.«
Die Öffentlichkeit reagierte zunächst mit völligem Unverständnis, aber nach und nach wurde ihr die Bedeutung und das Ausmaß dieses vermeintlichen Betrugs klar. Eine am 1. Dezember durchgeführte Meinungsumfrage unter Fünf- bis Achtjährigen wollte wissen: »Glaubst du an den Weihnachtsmann?« Das Ergebnis: ja = 26%; nein = 38%; weiß nicht = 36%. Ältere Kinder zeigten sich noch skeptischer.
Am 12. Dezember versammelten sich schätzungsweise 300.000 Kinder, die aus allen Stadtteilen herbeigeströmt waren, vor dem Elternhaus von Boyd. Sie skandierten »Wir furzen auf die dicken, fetten Heuchler« und veranstalteten im Vorgarten der Boyds eine feierliche Verbrennung von nicht weniger als 128 Weihnachtsmann-Darstellungen. In jeder größeren Stadt fanden zeitgleich ähnliche Protestkundgebungen statt.
Die wirklich tiefgreifenden und längerfristigen Konsequenzen dieses Skandals zeichneten sich aber erst sehr viel später ab, da sie nicht so sehr in dem, was unternommen wurde, begründet lagen, sondern vielmehr in der Unterlassung dessen, was zu tun notwendig gewesen wäre. Die Leute verhielten sich nämlich so, als wäre nicht nur der Weihnachtsmann, sondern auch das Weihnachtsfest schlechthin in Frage gestellt worden. Unverkaufte Geschenkartikel überfüllten Lager und Warenhäuser, und auf den Straßen blieb ein Wald aus sprödem Immergrün zurück.
Erfolglos bemühten sich etliche prominente Personen, die verhängnisvolle Entwicklung aufzuhalten und umzukehren. Der Kongreß bewilligte drei Millionen Dollar, um das Kapitol und das Weiße Haus mit einer riesigen Figurengruppe vom
Weitere Kostenlose Bücher