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Andere tun es doch auch (German Edition)

Andere tun es doch auch (German Edition)

Titel: Andere tun es doch auch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Sachau
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stilsicher bei der Schuhwahl, und das Gleiche gilt für die Bleudkinon-Mitarbeiter. Jeder versucht auf seine Art, den Schaden halbwegs in Grenzen zu halten, und es ist keiner dabei, der nicht ab und zu neidvoll auf die gelben Baugummistiefel schaut, die ich trage und die das einzige in Stil, Form und Funktion passende Schuhwerk für einen ersten Spatenstich sind. Manchmal frage ich mich wirklich, was die Leute im Kopf haben.
    Ein paar Meter neben mir steht das prachtvolle, auf einer blauen Samttischdecke hingebreitete Buffet, flankiert von einer Batterie gut gekühlter Champagnerflaschen, üppigem Blumenschmuck und zwei Buffetdamen in knapp geschnittenen schwarz-weißen Kostümen. Schon als ich es von weitem gesehen habe, lief mir das Wasser im Mund zusammen, denn ich habe extra deswegen nicht gefrühstückt.
    Um mich abzulenken, unterhalte ich mich ein wenig mit Herrn Bielewitz von Villeroy & Boch, einer der wenigen hier, der ebenfalls Baugummistiefel zum Anzug trägt, wie es der Anlass erfordert. Ich erzähle ihm von meiner unglaublichen Begegnung bei Scholenbach Klassisches Schuhwerk gestern.
    »Ich kann es nicht glauben! Die Dame war wirklich der Meinung, dass es keine Oxfords mit Broguings gibt?«
    »Vielleicht war es auch nur ein böser Traum.«
    »Wollen wir es hoffen. Eine andere Frage, Herr Findling, wird es nicht Zeit, dass nun jemand eine Rede hält? Die Spaten sind alle verteilt, soweit ich das sehen kann.«
    »Da haben Sie völlig recht.«
    Ich sehe mich um. Keiner macht Anstalten, die Stimme zu erheben. Das Buffet wird nicht eröffnet, solange keiner eine Rede gehalten hat, so viel ist klar. Der Champagner wird warm und wärmer, und den Kellnern schlafen die Füße ein. Warum legt keiner los? Wen auch immer ich anschaue, die Löwensteins, die Bleudkinon, Frau Klapphorst, irgendwie gucken alle nur unzufrieden drein. Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr wird klar, was für ein Desaster hier gerade passiert: Niemand hat festgelegt, wer die Spatenstichrede halten soll. War auch fast abzusehen. Normalerweise gibt es erste Spatenstiche nur bei Riesenprojekten. Dann spricht der Bürgermeister, macht ein bisschen Wahlkampf, und danach knallen die Korken. Aber wer schlüpft bei uns in die Rolle des Bürgermeisters? Den Löwensteins ist anzusehen, dass sie sich zu fein dafür sind, der Bleudkinon ist anzusehen, dass sie kein Deutsch kann, und den anderen steht ins Gesicht geschrieben, dass sie sich nicht berufen fühlen. Ich schaue Frau Klapphorst an. Warum macht sie es nicht? Die deutsche Büroleiterin von Amélie Bleudkinon, das wäre doch aller Ehren wert. Komm schon, Mädchen, es ist nur eine Formsache!
    Im gleichen Moment sehe ich aber etwas in ihren Augen, was ich noch nie bei ihr gesehen habe: Panik. Interessant. Die knallharte Erika Klapphorst, die ein 50-Mann-Büro führt und dem Vernehmen nach schon gestandene Bauingenieure bei lebendigem Leib verspeist hat, hat also Angst davor, öffentlich zu reden. Wer hätte das gedacht.
    Oh, jetzt bedeutet sie mir, ich solle ans Mikrofon gehen. Ich? Moment. Erstens bin ich eine viel zu kleine Nummer in dem ganzen Projekt, und zweitens … habe ich jetzt auch Panik! Nein! Herr Bielewitz soll die Rede halten! Oder Jochen! Oder … Nein, ich jedenfalls nicht! Auf keinen Fall! Warum bin ich nicht zu Hause geblieben? Ich schaue jetzt einfach woanders hin und warte. Der Himmel dort drüben ist auch wirklich besonders schön. Die Sekunden dehnen sich ins Unendliche. Aber ich bin nicht schuld an der Misere, oder? Nein, auf keinen Fall. Ich habe nichts damit zu tun.
    Da! Endlich! Ein Knacken. Das typische Geräusch eines Mikrofons, das gerade eingeschaltet wird. Ich höre eine helle Stimme.
    »Wir fangen jetzt an, das coolste Haus von ganz Berlin zu bauen. Auf gehts! Haut die Spaten in die Erde, und dann wird gespachtelt! Juchu!«
    Was war das? Während erleichterte Klatscher durch die Luft schwirren, drehe ich mich um, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Löwensteintochter das Mikro zurücklegt. Ihr Vater schaut sie zufrieden an, ihre Mutter schaut sie vorwurfsvoll an. Dann sieht die Löwensteinmutter, dass ihr Mann ihre Tochter zufrieden anschaut, und schaut ihn ebenfalls vorwurfsvoll an, woraufhin er beginnt, seine Tochter ebenfalls vorwurfsvoll anzuschauen, die inzwischen aber schon längst abgedreht hat, um den Kellner erwartungsvoll anzuschauen, der gerade die erste Champagnerflasche entkorkt hat.
    Ich hingegen werde kleinlaut angeschaut. Von Frau

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