Anderer Welten Kind (German Edition)
Aufbruchs und der Zukunft der Hitlerjugend gewidmet. Nach dem Krieg hatte er nach einigen Hilfsarbeitertätigkeiten die Stelle als Speditionskaufmann gefunden und Tag und Nacht gelernt, um zu begreifen, was zukünftig von ihm erwartet wurde. Sievering war Speditionskaufmann von Hause aus, er war der bessere Mann und er war Lübecker.
Nur stockend erzählte Fritz Lorenz das Nötigste. Er war nicht in der Lage, sein Inneres nach außen zu kehren, seiner Empörung Ausdruck zu geben, und Ingeborg insistierte nicht, es hätte keinen Sinn gehabt. Sie begnügte sich mit kleinen Gesten des Bedauerns und des Trostes, indem sie ihm die Hand auf den Arm legte, weil sie ihren Mann kannte. Sie wusste, dass, wenn beim nächsten Zusammensein der beiden Freunde Lorenz und Kremer nach einigen Gedecken der ganze Ärger über die Zurückweisung aus ihm herausgeschwemmt würde, er all das loslassen konnte, was ihm im nüchternen Zustand verwehrt bleiben musste. Der Ablauf des Abends stand ihr so deutlich vor Augen, als wenn er schon passiert wäre, er war es im Grunde genommen auch. Antizipation der Zukunft wie gelebtes Leben. Ohne Überraschungen. Lauthalse Wehleidigkeit, Schuldzuweisungen, Schulter klopfende Freundschaftsbekundungen, Behauptung ihrer Existenzen gegen feindliche Umwelten, Erinnerungsduselei, und nach weiteren Bieren und Korn lallender Hass auf die Ungerechtigkeiten dieser Welt und „Oh du schöner Westerwald …“.
„Kein Wort zu den Kindern“, hatte Fritz Lorenz gesagt, „vor allem geht das Günter nichts an.“ Das fiel unter das Stichwort „Contenance wahren“.
Sie saßen zu fünft am Tisch. Fritz und Ingeborg Lorenz an den Stirnseiten, Renate und Günter nebeneinander und Renate gegenüber Christian, der es vermied, in Augenkontakt mit Günter zu geraten, den er nicht mochte und dessen Verachtung er spürte. Günter, der Maurer. Große Hände, breite Schultern, Prolet, keine Manieren. Immer bedacht auf Körperlichkeit, hochgekrempelte Ärmel auch im Winter, ein Händedruck wie eine Schraubzwinge. Christian fand, dass er nach körperlicher Arbeit und Männerschweiß roch. Außerdem hatte er schadhafte Zähne und Mundgeruch. Stefan gegenüber nannte er ihn einen Stinker.
Er war einmal zusammen mit Renate einen Anstandsbesuch bei Güntesr Eltern absolvieren. Kleine Leute, der Vater war Rentner und bewohnte mit seiner Frau, einer hageren, zerknitterten Person, eine Zweizimmerwohnung in Moisling in einer Arbeitersiedlung. Schon beim Betreten der Wohnung erschnüffelte Christian diesen Armeleutegeruch, eine Mischung aus schlechtem Essen, ungelüfteten Räumen und winzigem Badezimmer. Er haftete auch Günter an. Die übrige Familie schien das nicht zu bemerken; Günter war eine gute Partie für Renate. Hausbau hatte Zukunft, Handwerk war goldener Boden. Und die beiden spielten schon seit den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft eine Parodie auf die Ehe, wie Christian fand, saßen zusammen auf der gelben Couch, hörten Radio, am liebsten Das heitere Stegreifspiel mit Robert Lembke, sie mit Näharbeiten beschäftigt, er eine Flasche Bier in der Hand, und hatten schon alles geplant. Ihre Zukunft sah die Verlobung vor, wenn Renate die Lehre in eineinhalb Jahren beendete, Heirat, wenn Günter seinen Meister gebaut hatte, mindestens zwei Kinder, vielleicht ein Haus, an unendlich vielen Wochenenden in Eigenarbeit errichtet, aber erst einmal etwas auf der hohen Kante haben. Den Plan für ihr gemeinsames Leben hatte Renate von dem Kurs beim Müttergenesungswerk mitgebracht.
Das Schweigen von Fritz Lorenz lastete auf ihnen. Ausströmendes Schweigen, das sie umfloss. Ihnen fiel buchstäblich nichts ein, was der Situation ihre stumme Schwere genommen hätte. Günter, dem Fritz Lorenz schon das Du angeboten hatte, versuchte die Stimmung zu heben und erzählte von seinem Tag auf der Baustelle am Rathausmarkt, wo die neue Post errichtet wurde.
„Jeden Tag wächst der zweite Turm“, sagte er, „noch ein, zwei Monate, dann haben wir unsere Marienkirche wieder.“ Lübeck, die Stadt der sieben Türme, deren Silhouette auf der Schwartauer Marmelade, dem Niederegger Marzipan und Hunderten anderen Produkten verewigt war, in Keramik und gestickt die Wände zierte, dessen Holstentor den neuen Fünfzig-Mark-Schein unverwechselbar machte, restaurierte Straße für Straße und Gebäude für Gebäude ihren alten Stadtkern, um dort wieder anzukommen, wo es durch den Krieg unterbrochen wurde. Kontinuität, die an einem Stadtbild ansetzen
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