Anderer Welten Kind (German Edition)
ansah, überkam sie ein regelrechter Ekel. Seine Hände fassten sich aber schön an, trockene, warme, fleischige Ballen, die zärtlich sein konnten oder zupackend, und Ingeborg fühlte sich für ihren Ekel entschädigt. Der Kopf war fast rund, ein tiefer Haaransatz über einer glatten Stirn, zurückgekämmte dunkle, volle Haare, Nase und Kinn dominant. Der Mund und dessen Falten, die ihre eigene Sprache hatten. Im Grunde genommen in seiner Gesamtkomposition ein offenes, sympathisches Gesicht, das Vertrauen einflößte, das einlud zum Gespräch. In gewisser Weise gemütlich, wenn dieser Zug um den Mund nicht wäre, der den Mann gänzlich unzugänglich machen konnte. Wie heute Abend.
„Gestern haben wieder vier aus dem Ruhrgebiet versucht, in die Zone zu gelangen.“ Günter nahm einen neuen Anlauf. „Als sie aufgegriffen wurden, haben sie behauptet, sie suchten Arbeit.“
„Ich denke, die Vopos sind gerade dabei, die Stacheldrahtverhaue zu verstärken, ich hab darüber ein Foto in der Zeitung gesehen. Das ist doch jetzt ganz schwer, noch rüberzukommen“, sagte Ingeborg. „Sie wollten sich nicht fotografieren lassen und alle haben dem Fotografen den Rücken gekehrt, das sah vielleicht komisch aus, war es aber bestimmt nicht. Vielleicht wollten sie nicht erkannt werden, weil sie auch nicht in dem Unrechtsstaat leben wollen.“
Eine andere Idee kam Ingeborg gar nicht in den Sinn, so selbstverständlich war ihr ihr Weltbild, das sie noch mit den armen Schwestern und Brüdern in der Zone komplettierte. Kerzen zu Weihnachten in den Fenstern waren selbstverständlich. Sie wäre erstaunt gewesen, dass man anders darüber denken könnte, sie kannte auch niemanden, der anders dachte.
„Das sind doch Kommunisten, die rüberwollen“, sagte Fritz, „die wollen in ihren Arbeiter- und Bauernstaat. Sollen sie doch alle zu den Russen gehen. Verräter allesamt.“
„Gibt es denn im Ruhrgebiet keine Arbeit?“, fragte Renate. „Da war doch auch alles zerstört. Hast du mir doch mal erzählt, Günter.“
Sie hatte keine Vorstellung vom Ruhrgebiet. Es war ihr so fremd wie Bayern oder Italien, alles katholisch, ein Menschenschlag, der ihr Misstrauen und Unbehagen einflößte. Eine Klassenkameradin von ihr war katholisch gewesen mit Beichten und In-der-Kirche-Knien und all das. Meistens sollte es ja um sündige Gedanken gehen. Die machte sie dann doch lieber selbst mit dem lieben Gott ab, beim Gebet vor dem Einschlafen. Allein die Vorstellung von einem Beichtstuhl ließ sie den Kopf schütteln. In einem dunklen Käfig zu sitzen und zu einem Mann in einem Nachbarkäfig zu flüstern, der mit seinen Ohren an einem Gitter in der Zwischenwand hing und der ihr dann ebenso flüsternd eine Buße auferlegte, meistens in Form von Gebeten. Das hatte ihr die Klassenkameradin versucht zu erklären, aber sie war bei ihr, Renate Lorenz, fest im evangelischen Glauben, auf taube Ohren und Unverständnis gestoßen. Sie hatte sich von der Klassenkameradin ferngehalten. Die durften ja auch keinen Evangelischen heiraten oder nur, wenn der seinen Glauben aufgab. Allein das schon.
„Jeder, der arbeiten will, findet eine. Arbeitssuche im Osten, dass ich nicht lache. Kommunisten sind das, die sie ’56 nicht verhaftet haben. Das Ruhrgebiet war doch schon immer rot.“ Fritz blieb kategorisch.
„Aber sie haben auch eine Frau und einen Mann aus Düsseldorf an der Grenze angehalten, die nach Leipzig wollten, weil ihre Kinder dort im Heim sind.“
Günter hatte den Artikel gründlich gelesen. Fritz zuckte mit den Schultern, das Thema war für ihn durch. Politik hatte in der Familie nichts zu suchen, schon gar nicht, wenn sich konträre Standpunkte entwickeln konnten. Sich-Streiten war keine Kultur, Sich-Streiten bedeutete Sich-Zanken. Zank ging böse aus und er hatte andere Sorgen. Basta.
Christian war heute Günter dankbar, dass er versucht hatte, die Stimmung zu retten. So konnte er seinen eigenen Gedanken nachhängen, die jäh unterbrochen wurden, als Fritz Lorenz sich direkt an ihn wandte:
„Christian, hast du Krach mit Stefan?“
„Ich, wieso? …Wie kommst du darauf?“
Jetzt war er auf der Hut. Wieso fragt ihn sein Vater das? Das macht er nicht nur so. Er griff über den Tisch zur Serviette; Renate war schneller, legte ihre Hand auf den Stoff und bedachte ihn mit einem Anflug eines gemeinen Grinsens.
„Herbert meint, Stefan ist nicht gut auf dich zu sprechen. Du hast nie Zeit für ihn. Was treibst du denn den ganzen
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