Anderer Welten Kind (German Edition)
würde, das suggerieren könnte, es wäre zwischendurch nichts geschehen, und doch allen zeitgemäßen Stadtsilhouetten und Bedürfnissen Rechnung tragen würde durch Verbreiterungen und Begradigungen der Achsen und moderner Architektur. Günter fühlte sich direkt als Mitgestalter dieses Wiederaufbauprogramms, was sich durch das „Wir bauen, wir planen, bald haben wir das auch geschafft“ im immer wiederkehrenden, Identität stiftenden „Wir“ Ausdruck verschaffte. Fritz Lorenz dachte eher in der Kategorie „Das kostet den Steuerzahler Millionen“, hielt sich aber zurück. Wie gern wäre auch ihm das „Wir“ über die Lippen gekommen, aber es hätte einen falschen Zungenschlag.
Günter fiel nun auch nichts mehr ein und Renate und er begannen leise miteinander ein Zwiegespräch über die zukünftige Einrichtung der gemeinsamen Wohnung. Günter gefiel der moderne Stil nicht, dennoch konnte er sich dem Zuhause von Renate nicht ganz entziehen, er stand lange vor dem Chagall-Druck und versuchte sich darüber klar zu werden, was der große schwebende Mann über der russischen Kirche mit den Zwiebeltürmen wohl bedeuteten mochte. Er wagte nicht zu fragen und nahm sich vor, es selbst herauszufinden. Mit den Buchtiteln konnte er nicht viel anfangen. Er las nicht. Manchmal beschaute er die Bände über die Olympiaden. Am meisten gefiel ihm das Bild eines indischen Sportlers, der ganz entspannt mit aufgestützten Armen und ausgestreckten Beinen auf dem Rasen des Stadions saß und einen Sikh-Turban und einen schwarzen, gut geschnittenen Bart trug. In diesem Bild war die kosmopolitische Idee der Jugend der Welt symbolisiert, wie es in der Unterzeile hieß. Ein Inder in Melbourne, das gefiel ihm. Die Einrichtung schien ihm hingegen nicht solide genug und die Pastellfarben der Couch und der Sessel doch sehr gewagt, obschon er zugeben musste, dass die Wohnung etwas hatte.
„Das hält nicht lange“, sagte er einmal zu Renate, „und außerdem kann man nicht mit jeder neuen Mode die Möbel wechseln.“
Er wollte etwas Dauerhaftes, Zeitloses, wobei Eiche für ihn den Inbegriff für Wohlanständigkeit, Sicherheit und guten Geschmack beinhaltete. Renate widersprach nicht, es war ja noch nicht so weit, warum sich um ungelegte Eier streiten. Renate war pragmatisch.
Einfach aufstehen und in sein Zimmer gehen, das ging nicht in der Familie Lorenz, da musste es schon knallen, mindestens die Türen oder Fritz Lorenz’ scharf herausgepresstes „Raus!“. Die Schnitten waren längst gegessen, der Tee getrunken. Christian wollte allein sein. Er beschäftigte sich mit der Serviette, er faltete sie, nahm sie wieder auseinander, zwirbelte die Ecken, versuchte, einen kleinen Turm zu gestalten, zerstörte ihn wieder, indem er an zwei Zipfeln zog, und rollte sie anschließend, von einer Spitze ausgehend, ganz eng. Zu erzählen oder zu berichten hatte er nichts. Sein Blick streifte niemanden, er blieb vage oder konzentrierte sich auf seine Hände, er wollte nicht angesprochen werden. Er war übervoll mit der Begegnung mit von Dülmen, er platzte beinahe und konnte doch nichts herauslassen.
„Lass das!“, sagte Fritz Lorenz, nachdem die Blicke, die er in seine Richtung geworfen hatte, wobei er die Augen verengte, nicht die gewünschte Reaktion zeitigten. „Deine Mutter muss das wieder bügeln.“
Ingeborg Lorenz schwieg dazu, sie wollte sich nicht in die Schusslinie bringen, indem sie Christians harmlose Serviettenknüllerei verteidigte. Sie wusste, dass Fritz sich auf sie stürzen würde, ihr vorwerfen würde, sie verhätschele ihren Sohn, willkommener Anlass, seine Enttäuschung zu kanalisieren.
Christian ließ die Serviette fallen. Renate griff über den Tisch, nahm sie demonstrativ, strich sie glatt und legte sie neben ihren Teller. Dabei schaute sie erst ihn triumphierend und dann kurz ihren Vater an auf der Suche nach stillem Einverständnis, das ihr Fritz Lorenz aber heute nicht gewähren konnte, zu sehr war er mit seiner Niederlage in der Spedition beschäftigt.
Ingeborg Lorenz betrachtete aus den Augenwinkeln ihren Mann. Auch er gedrungen und massig, mit kurzen Armen und fleischigen Fingern. Die Daumen bogen sich über die Maßen nach außen und die schmalen Fingernägel setzen die Biegung fort und waren stark gerundet. Eigentlich mochte Ingeborg die Finger ihres Mannes nicht, besonders, wenn er sich am Kopf kratzte und die abgelösten Hautpartikel anschließend von ganz nah betrachtete. Manchmal, wenn sie nur die Daumen
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