Anderer Welten Kind (German Edition)
Tag?“
Christian fühlte sich in die Enge getrieben. Auf keinen Fall wollte er etwas preisgeben. War Stefan komplett verrückt geworden, mit seinen Eltern über ihre Freundschaft zu sprechen?
„Wieso nicht gut zu sprechen? Davon weiß ich nichts, mir hat er nichts gesagt. Gestern haben wir noch zusammen ein Referat vorbereitet. Versteh ich nicht.“
Unverfängliches Achselzucken. Sich zwingen, den Vater anzuschauen. Das mit dem Referat war geflunkert, sie waren erst für den nächsten Tag verabredet.
„Ich werde ihn morgen gleich fragen.“
Das werde ich, lieber Stefan, darauf kannst du Gift nehmen, dachte er.
Fritz Lorenz ließ nicht locker.
„Du hast doch keine Geheimnisse?“
„Fritz, der Junge ist sechzehn Jahre alt.“
Ingeborg mischte sich ein. Also hatte sie doch ein richtiges Gefühl gehabt, als sie sich heute Nachmittag über ihren Sohn gewundert hatte.
„Vielleicht hat er ja eine Freundin“, sagte Renate, „und geniert sich. Brauchst du aber nicht, kleiner Bruder.“
Wieder dieses angedeutete Grinsen. Günter knuffte sie in die Seite und schüttelte leicht den Kopf. Renate hob beschwichtigend die Hand. Seit sie mit Günter zusammen war, wusste sie mit ihrem Bruder nichts mehr anzufangen. Sie fühlte sich als Frau, dem Geschwisteralter entwachsen, in dem Vertrautheit und Geheimnisse teilen noch eine Rolle spielten. Sie hatten keine gemeinsamen Themen mehr. Ihre Kommunikation verlagerte sich aufs Triezen, so konnte sie ihn auf Abstand halten und wollte sich nicht eingestehen, dass ihre kleinen Sticheleien ihre Reaktion auf seinen fast vollständigen Rückzug von ihr waren. Dass Christian Günter nicht mochte, hatte sich schon bei den ersten Begegnungen herausgestellt. Aber da war noch mehr. Christian begann seinerseits ein eigenes Leben zu führen, zu dem sie keinen Zutritt hatte, und er ließ sie links liegen.
„Stimmt das?“, fragte Fritz Lorenz. „Pass aber auf, dass du die Schule nicht vernachlässigst.“
„Lasst mich in Ruhe!“ Christians Stimmung kippte, seine Unsicherheit schlug um in einen rasenden Hassanfall.
Sie wollen mir den Maler wegnehmen, schoss es ihm durch den Kopf und er begriff in diesem Augenblick nicht, dass niemand etwas von dieser Begegnung wissen konnte. Er hätte auch die Frage nicht beantworten können, warum er meinte, nach dieser eher peinlichen Kennenlernszene im Deepenmoor wäre etwas für ihn entstanden, was infrage gestellt werden könnte und was er unbedingt verteidigen müsste.
Er sprang so schnell vom Stuhl auf, dass er fast die Teetasse vom Tisch gefegt hätte. Als er an seinem Vater vorbeistürzen wollte, hielt der ihn am Arm fest und sagte schneidend: „Du stehst auf, wenn ich dir das sage!“
Aber Christian riss sich los und mit hochrotem Kopf schlug er die Wohnzimmertür hinter sich zu. Fritz Lorenz wollte ihm nach, Ingeborgs Blick ließ ihn in der Aufwärtsbewegung erstarren und schwer ließ er sich auf seinen Stuhl plumpsen.
„Lass ihn sich erst einmal beruhigen“, sagte sie, „er wird schon wieder.“
„Was hat er denn?“
Fritz Lorenz war selbst überrascht von der heftigen Reaktion seines Sohnes. War also doch etwas an der Sache mit Stefan dran? Vielleicht konnte er noch mehr über Herbert Kremer in Erfahrung bringen. Bis jetzt waren Stefan und sein Sohn unzertrennlich gewesen. Genauso wie Herbert und er. Fritz Lorenz hielt viel von Männerfreundschaft. Sie hatte Bestand. Sie war unkompliziert. Man musste nicht immer alles erklären. Parallele Welten gleicher Gefühlsebenen. Blicke, die verstanden. Und irgendwie bedeutete die Freundschaft zwischen Stefan und Christian eine Kontinuität in der Geschichte dieser beiden Familien, die im kurzen Abstand eher zufällig bei der Flucht an dieselbe Küste gespült wurden und sich in ähnlicher Weise in dieser fremden Umgebung behaupten mussten. Es war schon ein gewaltiger Unterschied, ob sie allein unter Tausenden anderen Flüchtlingsfamilien sich die soziale Leiter hochkrebsten oder als zwei befreundete Familien mit einer gemeinsamen Heimat und gemeinsamen Erinnerungen dem neuen Leben mit gegenseitiger Unterstützung begegnen konnten.
Nach dem Essen blieben Ingeborg und Fritz Lorenz allein in ihrem Wohnzimmer zurück. Sie sprachen nicht miteinander. Ingeborg las ihr Buch, Fritz blätterte in den Lübecker Nachrichten. Im Radio gab es das NWDR-Wunschkonzert, Friedrich Fischer-Dieskau sang gerade Puccinis Wie eiskalt ist dein Händchen. Ingeborg summte die ihr bekannten Stellen
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