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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ehmer
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über Ricky reden, aber die Art, wie Wullenwever ihn angesehen und eingeladen hatte, Platz zu nehmen, ließ ihn verstummen. Er spürte, dass er jetzt lieber gar nichts sagen sollte.
    Nachdem Wullenwever sich eine Selbstgedrehte in den Mundwinkel gesteckt und angezündet hatte, begann er, mit leise verhaltener, etwas brüchiger Stimme zu lesen und Christian bemerkte, dass er gar nicht ablas, sondern, die Augen auf das Büchlein gerichtet, frei rezitierte.
    Meine Hand hat nur noch eine
    Gebärde, mit der sie verscheucht;
    Auf die alten Steine
    Fällt es aus Felsen feucht.
    Ich höre nur dieses Klopfen
    Und mein Herz hält Schritt
    Mit dem Gehen der Tropfen
    Und vergeht damit.
    Tropften die doch schneller
    Käme doch wieder ein Tier
    Irgendwo war es heller – .
    Aber was wissen wir.
    Denk dir, das was jetzt Himmel ist und Wind,
    Luft deinem Mund und deinem Auge Helle,
    Das würde Stein bis um die kleine Stelle,
    An der dein Herz und deine Hände sind.
    Und was jetzt in dir morgen heißt und: dann
    Und: späterhin und nächstes Jahr und weiter –
    Das würde wund in dir und voller Eiter
    Und schwäre nur und bräche nicht mehr an.
    Und das, was war, das wäre irre und
    Raste in dir herum, den lieben Mund
    Der niemals lachte, schäumend von Gelächter
    Und das, was Gott war, wäre nur dein Wächter
    Und stopfte boshaft in das letzte Loch
    Ein schmutziges Auge. Und du lebtest doch.
    Er ließ das Büchlein sinken. Beide schwiegen. Christian war sich nicht sicher, ob er alles verstanden hatte, aber die Eindringlichkeit des Vortrages mit der gleichbleibenden Stimme ohne jedes Pathos hatte ihn beeindruckt. Wullenwever kannte das Sonett in- und auswendig.
    „Das Gedicht hat mich über manche böse Stunde getragen“, begann Wullenwever, „als ich, genauso wie Ricky jetzt, wegen des verfluchten Paragrafen im Gefängnis saß.“
    Und er fuhr fort, als er Christians ungläubiges Gesicht sah: „Ja, auch ich, wie viele Tausende mit mir. Und oft, wenn es mir wirklich schlecht ging, hatte ich es mir aufgesagt und“, er blickte Christian an, „du kannst mir glauben, es hat etwas Tröstliches und manches Mal geholfen.“
    Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Du hast keine Ahnung davon, nicht wahr, dass auch Homosexuelle in den Konzentrationslagern saßen? Die will wahrscheinlich niemand mehr haben. Und die, die es wissen, schweigen, weil sie es entweder richtig finden oder aus Scham. Wir hatten einen rosa Winkel an unserer Anstaltskleidung. Nicht nur Juden hatten sie deportiert, sondern alle möglichen Menschen, die ihnen nicht in den Kram passten, zum Beispiel auch Zigeuner.“
    Dann skizzierte er fast stichwortartig in groben Zügen sein Leben, das ihn ins Gefängnis und in das KZ Neuengamme gebracht hatte, und erst als er bei Adenauer angekommen war, hörte Christian im Beben seiner Stimme immer noch seine anhaltende Empörung mitschwingen. Christian merkte, wie schwer es Wullenwever fiel, über sich zu sprechen.
    Er schloss: „So war das damals und so ist es heute. Sei froh, dass sie dich mit Ricky nicht erwischt haben. Und von ihm weiß ich wirklich nicht mehr als du. So eng waren wir nicht.“ Dabei rieb er die beiden ausgestreckten Zeigefinger aneinander.
    Christian wollte erwidern, dass das mit Ricky aus Versehen war, dass er nicht andersherum sei, aber er merkte, dass es nicht wichtig war, nicht in diesem Moment, und er schüttelte nur mit dem Kopf.
    „So“, sagte Wullenwever, „jetzt musst du gehen. Aber ich gebe dir den Rat mit, dich fernzuhalten von allem, was dir Schwierigkeiten machen könnte. Und … komm bitte nie wieder hierher. Du kennst mich nicht. Es ist besser so.“
    Auf das „Versprochen?“ verzichtete er, als er ihm die Hand gab.
    Später, als er wieder allein in seinem Geschäft war, dachte Wullenwever, was bist du doch für ein Schwatzmaul, und er überlegte, ob es nicht ein grober Fehler gewesen sei, den Jungen eingeweiht zu haben, und ihn beschlich die Angst, er könnte wieder in den Strudel von Verfolgung und Gefängnis geraten, aber ein gegenläufiges Gefühl sagte ihm, er brauche sich wegen Christian keine Sorgen zu machen, von ihm ginge keine Gefahr aus.
    Viel größere Sorgen machte er sich wegen der Gemälde. Gleich nach Rickys Verhaftung hatte er all dessen Bilder aus dem Laden entfernt und sie an einem sicheren Ort deponiert. Die Etablissement-Gemälde waren noch nicht geliefert worden und offensichtlich der Sitte in die Hände gefallen. Er hatte seine Geschäftspartner in Hamburg

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