Anderer Welten Kind (German Edition)
Christans schroffe Ablehnung in die Abteilung „Pubertierender Jugendlicher mit Liebeskummer“. Ihr tat Christian leid, seitdem Helga mit ihm Schluss gemacht hatte. Oder hatte er mit ihr? So genau konnte sie es nicht einordnen, denn außer den wenigen dürren Worten hatte Christian sich zurückgezogen und schweigend seinen Verlust in sich vergraben. Sie ließ ihn in Ruhe, dachte, da könne ihm niemand helfen, und schließlich gehörten solche Erfahrungen zum Erwachsenwerden. Fritz hatte anfangs, mit der Hand abwinkend, den Jungen als zu weich und weinerlich abgetan. Er solle sich zusammennehmen, war sein Kommentar ihr gegenüber. Helga wird vielleicht die erste, aber sicherlich nicht die letzte Frau in Christians Leben gewesen sein. Herausgenuschelte Allgemeinplätze, damit sie ihm nicht mit einem Gespräch über Gefühlslagen auf den Pelz rückte. Da blieb er sich treu. Ingeborg hatte nur mit dem Kopf geschüttelt und ihn gefragt, ob er denn nie unter Liebeskummer gelitten oder schon alles vergessen hätte? Fritz winkte noch einmal ab, doch ließ er seinen Sohn in Ruhe. Zu einem Gespräch unter Männern, wie es Ingeborg angeregt hatte, konnte er sich nicht durchringen.
Christian verbrachte den Rest des Nachmittags und den Abend in seinem Zimmer. Er wünschte sich, weit, weit fort zu sein.
Auch der nächste Tag verlief ruhig. Helga fehlte immer noch in der Schule und Christian hoffte, dass sie das inkriminierende Foto nicht gesehen hatte. Oder sollte sie doch? Genau konnte er es gar nicht sagen. Vielleicht war es wie eine Nagelprobe, es zu sehen, über die Ähnlichkeit zu stutzen und dann, ein wenig verwundert, weiter zu blättern und ihn dadurch endgültig freizusprechen oder zwei und zwei zusammenzuzählen, ihn mit seinem Bild zu konfrontieren und ihm ihre Wut und Verachtung entgegenzuschleudern oder, was noch schlimmer war, zur Polizei zu gehen. Diesen Schritt traute er ihr nicht wirklich zu, aber er passte ganz gut in sein Gemütskostüm. Helga war ein Unsicherheitsfaktor, ohne Zweifel, und er dachte, wenn auch diese Hürde genommen sei, dann sei er noch einmal davongekommen.
Er kam nicht davon. Schon der erste Blick hatte sie verraten. Nur einen winzigen Augenblick zu lang, der Mund ein Strich, die Augen kalt, bevor sie sich abrupt abwendete und, ohne ihn weiter zu beachten, ihren Platz in der Klasse einnahm. Aber er reichte, um ihm klarzumachen, dass sie nicht nur das Foto erkannt, sondern alles, was dahintersteckte, verstanden hatte. Gestorben. Er war für sie gestorben. Er schloss die Augen, als wenn er damit die Welt ausschließen oder sich unsichtbar machen könnte.
„Du bist ja ganz blass geworden! Ist dir schlecht?“ Gericke fasste ihn an den Oberarm.
„Nein … nein, es ist nichts. Alles in Ordnung.“
Christian schob seine Hand weg und schüttelte den Kopf. Nur jetzt keine Aufmerksamkeit erregen! Er bückte sich zu seiner Aktentasche, zog sie auf seine Knie und begann, darin zu wühlen und wollte gar nicht mehr aufhören, den Kopf immer tiefer in das Innere versenkend, murmelnd „es muss doch da sein, ich habe es doch mitgenommen“, um schließlich mit einem „na endlich“ das Geografieheft herauszuziehen. Ganz umständlich stellte er die Aktentasche wieder auf ihren Platz und strich mit der Handfläche über das Heft, bevor er es aufschlug, lange darin blätterte und die letzten Eintragungen einer sorgsamen Prüfung unterzog.
„Wir schreiben die Arbeit doch erst morgen“, sagt Gericke, der ihn beobachtet hatte.
„Ich weiß, aber ich habe nicht viel Zeit zum Lernen.“
Der Blick blieb über das Heft gebeugt.
Wenzels Erscheinen erlöste ihn und niemals zuvor hatte er so an den Lippen seines Lehrers gehangen, ohne jedoch auch nur ein Wörtchen von dem mitzubekommen, was Wenzel dozierte. Die Worte, ein rauschendes Plätschern, aber solange sie vorbeischwammen, konnte er sich an sie klammern, konnte ihn nichts von ihnen abhalten, nichts dazu bringen, den Kopf zu wenden, ins Visier seiner Klassenkameraden zu rücken, konnte sich wünschen, dieser Zustand würde niemals enden.
Helga nahm keinen Kontakt zu ihm auf. Weder schaute sie in seine Richtung noch ließ sie ihn durch irgendeine Geste oder eine körperliche Wendung ahnen, dass er in einem Raum mit ihr war, die Verkennung war perfekt. Dankbar nahm er zur Kenntnis, dass sie schwieg, ihn nicht bloßstellte, er hätte sich nicht zu wehren gewusst. Auch er vermied jeden Blickkontakt, versicherte sich dennoch verstohlen bei jedem
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