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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ehmer
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Zeichen eines vertriebenen sozialen Milieus.
    Für Schrecken und Innehalten war keine Zeit, die Lücken zwischen den Ruinen füllten sich schnell und mit jedem neuen Haus schmolz der Fundus an sichtbarer Erinnerung und er wurde Stück für Stück in das Reich der Erzählungen und persönlicher Erlebnisse überführt. Die archaische Unordnung nach dem Angriff, der Staub, die Schutthalden, die zerkraterten Straßen, die halb eingestürzten, von standhaltenden Trägern und Betoneisen in absurden Verdrehungen und dramatisch geneigten Übertreibungen erstarrten Mauerreste waren verschwunden und die ehemalige Ordnung der Straßenfluchten war schnell abgelöst worden durch die neue Ordnung der sauber geschichteten Haufen aus Ziegel- und Klinkersteinen und den Materialien aus den ausgeweideten Häusern. Jetzt erlebte das Areal die Wiederauferstehung als moderne, den Vorstellungen einer neuen Zeit angepasste Stadtstruktur, bereit, sich dem Sündenfall zu ergeben, den der Verzicht auf die Wiederherstellung des alten Stadtbildes in sich barg.
    In Richard von Dülmens Kopf setzte sich das brennende Lübeck als plötzliche Veränderung des Stadtbildes fest, als in der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942, dem Palmsonntag, die Luftangriffe der Engländer aus der Stadt der sieben Türme, stolze hanseatische Herrlichkeit, eine Stadt mit sechs Stümpfen machten, die turmlos ihre Niederlage verkündete, wobei die Jacobikirche als einzige unversehrt geblieben, das Bild der Niederlage noch verschärfte, da sie, aus dem Ensemble gerissen, den hanseatischen Stolz nicht widerspiegeln konnte, dafür war sie zu unscheinbar und zu weit an den Rand der Altstadt gedrückt. Vorher – nachher, deutlicher ging es nicht.
    Ricky war damals ein Jugendlicher in Christians Alter gewesen, Flakhelfer, Gymnasiast. Die Zeit des Angriffs verbrachte er bei seinem Onkel in Mölln. Er hatte nichts mitbekommen. Danach beinhaltete Krieg für ihn Aufräumen, Steineschleppen, mit dem Hammer zusammen in einer endlosen Reihe Kopftuch bewirkter Frauen jeden Alters Putz von den Ziegelsteinen zu schlagen. Eingezogen wurde er nicht, eine Lungenentzündung, die schlecht ausgeheilt war, drohte wieder auszubrechen, und er verbrachte einen Teil der Jahre in einer Lungenklinik in Malente. An der Flak stand er nur bei den Übungen, die während seiner Schulzeit angesetzt waren. Als das letzte Aufgebot die Schulbänke und Lehrwerkstätten leerte, alte Männer von Parkbänken und aus Kneipen gesammelt wurden und die kaum ausgewachsenen und die verbrauchten, gichtigen Körper zum Volkssturm vereinte, war er wieder in der Klinik und auch dieser Kelch ging an ihm vorüber. Er war nicht bös drum, denn das ganze Nazigetue widerstrebte ihm zutiefst und er hielt sich abseits und war nicht unglücklich über seine Krankheit.
    Das Eiscafé Venezia an der Ecke Hüxstraße, ein roter Ziegelbau mit Stufengiebel, hatte den Luftangriff unbeschädigt überstanden. Dieser Teil der Altstadt zwischen Hüxstraße und Koberg war gänzlich unversehrt dem Angriff entkommen, der die nord-westlichen Teile zum Ziel hatte. Die Gassen und Häuser um das Katharineum und der Katharinenkirche, dem Heiligengeisthausspital, dem Burgtor und der Schiffergesellschaft ließen die Illusion einer mittelalterlichen Stadt zu, ein Studienobjekt für Historiker. Indes erweckten die schlecht beheizten, schimmeligen Wohnungen mit fehlenden sanitären Einrichtungen, feuchten, zugigen Winkeln in kaum beleuchteten, engen Gassen bei denen, die dort eingepfercht in zu kleinen Räumen mit zu vielen Personen leben mussten, keine pittoresken Gefühle und sie sehnten sich nach den Neubausiedlungen an den Stadträndern, einmal Sonne und frische Luft anstelle der modrigen, engen Hinterhöfe, in denen entweder feuchte Hitze stand oder feuchte Kälte.
    Im Eiscafé waren alle Resopaltische besetzt. In der hinteren Ecke nahe der Tür zu den Toiletten wurde an einem runden Tisch mit zwei Stühlen gerade bezahlt und Richard von Dülmen drängte sich durch den dicht möblierten Raum und stellte sich hinter die Kellnerin mit dem dunklen Pferdeschwanz und der weißen spitzenbesetzten Schürze. Die beiden Schüler rempelten ihn an, als sie versuchten, an ihm vorbeizukommen, und bedachten ihn mit finsteren Blicken. Richard zuckte bedauernd mit den Schultern und sagte „Entschuldigung, die Herren“, was sie nicht komisch fanden. Von hier aus hatte er einen guten Überblick über das Café und konnte die Tür im Auge behalten. Das

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