Anderer Welten Kind (German Edition)
Enge getrieben. Der hatte ihm schon einmal auf den Kopf zugesagt, dass sein Vater nicht mehr als 700 DM verdiente, was ungefähr hinkam. Im Ton dieser objektiven Feststellung schwang die ganze Verachtung dessen mit, der sich die Leistungen und den gesellschaftlichen Status des eigenen Vaters an den Hut steckte und daraus sein Selbstwertgefühl zog. Das durchschaute Christian jedoch nicht und der Stachel saß tief.
Vor den anderen lagen neue, glänzende Ausgaben, bei der Buchhandlung Weiland in der Königstraße vorbestellt und gekauft. Nun wäre es ein reines Zeitproblem gewesen, dass die anderen, jetzt noch unbefleckten und unzerrissenen Bücher sich den ihren durch täglichen Gebrauch angeglichen hätten, aber sie waren gehalten, ihre Bücher zur Schonung in Pack- oder Zeitungspapier einzuschlagen, und so blieb das Stigma der armen Leute, mit dem sie behaftet waren, über das gesamte Schuljahr sichtbar und unauslöschbar. Proletenkind oder Flüchtlingskind oder beides, unvereinbar mit dem Standesdünkel der meisten Schüler des Katharineums, das sich wie keine zweite Schule der Hansestadt der Tradition des Bürgertums verpflichtet fühlte.
Vom ersten Schultag an wurde ihnen eingeimpft, dass aus der Schule berühmte Männer hervorgegangen seien, Künstler, Unternehmer, Philosophen, Erfinder, Dichter, wie Emanuel Geibel, Werner von Siemens, dessen uralte Physikgeräte immer noch das Gros des Unterrichtsmaterials stellten, Thomas und Heinrich Mann, Theodor Storm und seine Graue Stadt am Meer, die jeder Schüler auswendig kannte, Erich Mühsam, den man lieber vergaß oder nur en passant erwähnte und dessen Rolle als anarchistischer Führer in der Münchener Räterepublik nicht existierte im kollektiven Gedächtnis der Lehrerschaft, Fritz Behn, der strenge Werner Bergengruen und der Philosoph Hans Blumenberg, der die Schule wegen der ungebrochenen rechtskonservativen Lehrerschaft hasste.
Stefan schien es nicht so viel auszumachen. Er war längst nicht so empfindsam wie Christian und behauptete seinen Platz in der Klasse durch seine offene Art und seinen Humor, den er von seinem Vater geerbt hatte. Auch ging er keiner Prügelei aus dem Weg, was ihm Respekt verschaffte. So schwamm Christian oft im Kielwasser ihrer Freundschaft und sie verschaffte ihm die nötige Deckung und den Schutz, aus denen heraus er seine Suche nach Beziehungen starten konnte.
Heute, nach gestern und dieser Nacht, die ihn emotional auf Hochtouren gehalten hatte, versuchte er Stefan aus dem Weg zu gehen. Ein Streit mit ihm, auch wenn er gerechtfertigt wäre wegen der Einmischung der Eltern in ihre Freundschaft, hätte Christian heute nicht gut durchgestanden. Gleichzeitig wusste er natürlich, dass Stefan recht hatte. Seit er seine Nachmittage im Moor verbrachte, blieb nicht viel Zeit für ihre gemeinsamen Unternehmungen. Er geriet sofort in die Bredouille, als Stefan ihn begrüßte und ihn an die Verabredung zum Referatschreiben erinnerte, wobei er eigentlich nur wissen wollte, bei wem sie sich träfen.
„Hör mal, Stefan“, begann er, „ich kann heute doch nicht. Lass es uns auf morgen verschieben. Ich muss mit meiner Mutter Besorgungen machen.“
Stefan runzelte die Stirn und verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen. Das war doch nun wirklich eine bescheuerte Ausrede. Er hatte langsam die Nase voll von den Ausflüchten. Er strich sich eine Strähne seines blonden Haares aus der Stirn, schob trotzig das Kinn vor, drehte sich auf dem Absatz um und kehrte zu seiner Bank in der zweiten Reihe zurück, die er sich mit Hubert, Hubi, Meyer teilte. Die Freunde saßen nicht zusammen, weil sie sonst zu abgelenkt wären, wie Hansen befand, ohne sich um den Protest der beiden zu kümmern. Jetzt war er froh, nicht neben Christian zu sitzen, und er schob seinen langen Körper in die Bank, kaum in der Lage, die Beine unter den Tisch zu bugsieren.
Stefan Kremer war ein schmales Handtuch, wie ihn Henze im Sportunterricht oft titulierte. Schlank, mit dünnen Armen und Beinen, hielt er sich dennoch sehr aufrecht, auch wenn er die meisten seiner Klassenkameraden um Kopfeslänge überragte. Er hatte picklige Haut und langes, glattes Haar, das ihm in die Stirn fiel, und eine kleine gerade Nase, deren Flügel sich beim Sprechen leicht blähten und die von zwei Grübchen in den Wangen pointiert wurde. Blaugrüne Augen unter gebogenen blonden Brauen und ein relativ großer Mund mit starken weißen Zähnen harmonierten in dem ovalen Gesicht. Er sah hübsch
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