Anderer Welten Kind (German Edition)
aus, auch wenn das Kinn den Gesamteindruck ein wenig relativierte, denn es ging fast konturlos in den Hals über.
Christian war ihm gefolgt, er musste jetzt etwas sagen. Doch die Klingel und das unmittelbare Auftauchen von Hansen verschafften ihm eine Galgenfrist bis zur nächsten Pause. Fast erleichtert kehrte er zu seinem Platz in der letzten Reihe zurück und während der nächsten fünfundvierzig Minuten zermarterte er sich das Hirn nach einer plausiblen Erklärung, um Stefans Misstrauen und Frustration zu dämpfen.
Ihm fiel buchstäblich nichts ein und er wand sich in seinem Unwohlsein und gleichzeitig verteidigte er seinen so mühsam erworbenen Schatz. Um keinen Preis der Welt würde er Stefan etwas erzählen oder von der vagen Verabredung im Eiscafé lassen. Merkwürdigerweise fühlte er sich nicht schwach oder gelähmt wegen des in seinen Augen missglückten Kennenlernens von Ricky von Dülmen, vielmehr erwuchs sein Unwohlsein aus der unbequemen Situation zwischen dem sich langsam einstellenden Gefühl eines Triumphes und der Beibehaltung der Rollenerwartung in seinem Verhältnis zu Stefan. Am liebsten hätte er ein neues Selbstbewusstsein zur Schau gestellt: Sieh her, wenn du wüsstest, wen ich kennengelernt habe.
Zerknirscht bestand er ohne erneute Ausrede in der Pause auf dem Termin für das Referat am nächsten Tag und hoffte, dass sich bis dann die Wogen wieder geglättet hätten. Stefan stimmte nach einigem Zögern zu, entzog sich aber während des ganzen Vormittags den Annäherungsversuchen Christians, der die offensichtliche Abwendung seines Freundes kaum aushielt. So sicher war er sich seiner neuen Gefühlslage nun doch nicht.
Richard von Dülmen rieb sich einen blauen Farbfleck vom Handballen der rechten Hand, befeuchtete den Zeigefinger immer wieder mit Spucke, aber der Fleck widerstand als eine dünn aufgetragene pfenniggroße Fläche.
Ich muss es mit Lösungsmittel versuchen, dachte er. Es war ein ähnliches Blau wie auf dem Schwimmbadgemälde und seine Gedanken schweiften unweigerlich zu Christian und seinem erschrockenen Gesicht. Er hätte es wissen müssen, was war er doch für ein Idiot. Als er gezögert hatte, das Bild zu entschleiern, hätte er auf seine innere Stimme hören sollen, sofort zu gehen. Den würde er wohl nicht mehr wiedersehen. Hatte er seinen Namen genannt? Ach ja, natürlich, Ricky, ha, ha, Ricky, so nennen mich meine Freunde, so ein Blödsinn! Und wenn der Junge ihn jetzt anzeigte? Geschockt, wie er vermutlich war? Das Bild befand sich noch auf der Insel, es wäre also ein Leichtes für den Kleinen.
Er wollte Christian brüskieren, musste er sich eingestehen, er wollte die Reaktion, das Erschrecken oder das Erkennen, vielleicht sogar die Angst und hinter der Angst die Neugierde, und er wollte sich ins Spiel bringen, eindeutig, unzweifelhaft, in der Konfrontation oder in einem Einverständnis, das er nicht erwarten konnte. Was verschafft Klarheit besser als die eigene Entäußerung, dieses „Hier bin ich“? Aber zu der Fortsetzung „Und ich kann nicht anders“ war es ja gar nicht gekommen, der Junge war einfach gegangen.
Richard von Dülmens Gefühle blieben gemischt. Er war auf dem Weg durch die Stadt, über den Kohlmarkt und der Wahmstraße in die Königstraße zum Eiscafé Venezia, das im letzten Jahr als erstes italienische Eiscafé in Lübeck eröffnet hatte und sofort zum Treffpunkt von Schülern und jungen Erwachsenen avancierte. Sollte er wirklich dorthin gehen?
Der Kohlmarkt war noch vor gar nicht so langer Zeit eine öde Fläche, auf der hier und dort alte Fassaden wie Zahnstummel in einem verwüsteten Mund den historischen Verlauf des Marktes und der Breite Straße markierten. Von der Königstraße aus gab es eine freie Sicht auf die Marienkirche mit dem einen ganz und dem anderen halb fertig gestellten Turm. Jetzt war die Stadt aufgeräumt und im vollen Gange bei der Bestückung mit den Straßenszenarien, die schon während des Krieges als abgeschlossene Pläne die umfassende Stadtsanierung der Altstadt in Angriff nehmen sollten. Die Fassaden der ausgebombten Häuser, die noch nicht abgerissen waren und in die neue Stadtlandschaft integriert werden sollten, wirkten trostlos mit ihren leeren Fenstern und brandgeschwärzten Fronten. Häuser ohne Vorderfront erweckten den Eindruck riesiger Puppenhäuser, die kein Geheimnis und keine Privatheit mehr bargen. Sie erzählten die Geschichten ihrer Einwohner oder sie deuteten sie vielmehr an als rudimentäre
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