Anderer Welten Kind (German Edition)
nicht. Heimlich hatten er und Stefan schon oft geraucht, einzelne Zigaretten aus den Packungen ihrer Eltern stibitzt oder sie bei Frau Sänger im Wohnzimmer genossen, die sie manchmal aufforderte einzutreten, wenn sie aus der Kremerwohnung die Treppe hinunterstürmten.
Frau Sänger, kinderlos, unbestimmten Alters, der Mann auf Montage, war einsam und lud die Jungs manchmal auf eine Zigarette ein, dann unterhielten sie sich eine Weile und Stefan und Christian kamen sich wie Erwachsene vor, ernst genommen, und der Respekt, den sie Frau Sänger zollten, entsprach ihrer Rolle als gleichwertige Gesprächspartner. Nie hatten sie das Gefühl, es könnte mehr dahinter stecken als Frau Sängers Interesse an ein bisschen Unterhaltung und Abwechslung in ihrem Leben, das sich im Warten erfüllte, bis sie in der letzten Woche der Sommerferien an einem sonnigen Nachmittag Stefan verführte und er seine Unschuld freudig erregt opferte, was ihn in helle Aufregung versetzte.
„Pepita-Unterwäsche, kannst du dir das vorstellen?“, schwärmte er begeistert. „Und wie sie roch, das musst du selbst gerochen haben, ganz seltsam und wunderbar.“
Er hatte hinterher noch lange an seinen Fingern geschnüffelt und konnte von diesem intimen Geruch nicht genug bekommen. Leider hatte sich keine Liaison daraus entwickelt und die unschuldigen Nachmittage waren vorbei. Dass er zu schnell gekommen war, ungeschickt, nervös und ahnungslos dem fremden Körper begegnet war, eher peinlich berührt als enthemmt, verschwieg er, denn er wollte sich den Vorsprung vor Christian bewahren, der auch lange daran zu knabbern hatte.
Christian winkte dankend ab. „Ich rauche nicht, ich bin Sportler“, sagte er etwas gestelzt, er wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, er wäre zu feige, in der Öffentlichkeit zu rauchen. Er bemerkte, dass er ständig Gefahr lief, sich kindisch und unerfahren zu fühlen, und musste sich sehr anstrengen, einigermaßen dem adäquaten Bild zu entsprechen, das er für sich in Anspruch nahm.
„Sportler? Was denn für ein Sport?“, fragte von Dülmen, der sich schon seine Gedanken über die durchtrainierte Figur von Christian gemacht hatte.
„Ich rudere, Jugendvierer mit Steuermann.“
Darunter konnte sich von Dülmen nichts vorstellen. Er hatte schon oft die Ruderboote auf der Trave oder dem Elbe-Lübeck-Kanal gesehen, hatte freilich für die einzelnen Bootsklassen, die Riemen- oder Skullboote, die Skiffs oder Wanderboote keinen Blick gehabt. Es waren für ihn einfach Boote auf dem Wasser. Sport verachtete er nicht nur wegen seiner schwächlichen Gesundheit, er sah das kollektive Hinterherhecheln hinter einem Ball oder die Mühen, ein Sportgerät einigermaßen zu beherrschen, als lächerlich an und es widersprach seinem ästhetischen Empfinden, den plumpen und unansehnlichen Bewegungsabläufen, die die Regel waren und die der Anmut und der Geschicklichkeit vorangingen, etwas abzugewinnen.
Die einzige Ausnahme bildete das Boxen. Besonders das Mittelgewicht hatte es ihm angetan. Hier fand er das Verhältnis zwischen der Kraft, den Muskelproportionen der durchtrainierten Körper, der Eleganz beim Tänzeln, der Schnelligkeit und Härte ausgewogen und harmonisch beinahe im Sinne eines Gesamtkunstwerkes, nicht so statisch wie die Schwergewichte, die mehr standen als sich im Ring bewegten und nicht so scheinbar abgelöst von der Schwerkraft wie die Federgewichte. Die Mittelgewichte entsprachen seinem Männerbild, dem er sich nicht nur in seinen Bildern anzunähern suchte.
In der Wochenschau hatte er den Weltmeister von 1957, Gene Fullmer, gesehen und er war geradezu begeistert von seinem Punch gewesen. Aber die größte Bewunderung zollte er Floyd Patterson, der schon als Siebzehnjähriger bei den Olympischen Spielen in Helsinki gegen den Rumänen Wassile Tita durch K.o. die Goldmedaille geholt hatte. Als er ihn im Kino das erste Mal gesehen hatte, war es wie eine Offenbarung gewesen. Er war gerührt von der Jugend des schwarzen Boxers, obwohl er damals selbst kaum älter war, aber vollständig beeindruckt hatten ihn die Entschlossenheit und der Mut, mit dem Patterson seine Kämpfe bestritt. Seitdem ging er regelmäßig zu den Ausscheidungskämpfen der Amateure des Lübecker Boxverbandes in die Hansehalle und genoss die raue, tabakgeschwängerte Atmosphäre und die Intimität der Veranstaltung, die einen fast familiären Charakter bewahrte und in die sich kaum ein Fremder verirrte.
„Rudern, aha“, sagte er, „dann
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