Anderer Welten Kind (German Edition)
nicht. Er wollte doch nur Malskat kennenlernen und natürlich jetzt auch von Dülmen, der ihm die Tür zu Malskat öffnen konnte. Heiligenbilder, Kirchen, Vorträge über Kirchenvorsteher, das alles nahm er gleichsam mit auf seinem Weg zu Malskat, das war der kleine Preis, den er bezahlte. Interesse heucheln, Verständnis aufbringen für Dinge, von denen er nichts verstand, Eindruck schinden mit, ja, mit was eigentlich? Da war in seinen Augen nichts, was von Dülmens Neugierde hätte wecken können. Wenn er wenigstens selbst den Kirchenbesuch vorgeschlagen hätte. Das, was von Dülmen ihm erzählte, war bestimmt während des Prozesses hoch- und runtergeleiert worden und er hätte nur irgendjemanden vorher zu fragen brauchen.
So geriet er, seit er von Dülmen getroffen hatte, in die Attitüde des Staunenden, dem die Welt erklärt wird. Den Themen, die er besetzten konnte, Sport oder Literatur – er bildete sich etwas darauf ein, schon Die Pest von Camus gelesen zu haben –, schenkte von Dülmen keinerlei Beachtung. Die Arroganz, mit der er über seine Ruderei hinweggegangen war, verletzte Christian, ohne die geringsten Mittel, den Schlag abzuwehren. Ricky ignorierte ihn in so augenfälligem Maße, dass sich Christian wie ein kleiner Junge vorkam. Er hatte die Situation einfach nicht im Griff, seine Möglichkeiten begrenzten sich in der Entscheidung zu gehen. Er konnte es aber nicht, das bisschen mit von Dülmen war schon zu viel, ein Zipfel seiner Welt wog schwerer als die langen Nachmittage mit seinen Freunden und Ruderkameraden. Selbst der Flirt mit Helga Korten rutschte in der Wertung nach hinten. Obwohl es bis jetzt nicht gelungen war, auch nur den kleinsten Ansatz eines eigenständigen Themas zu platzieren, musste er sich eingestehen, dass alles, was er in den letzten beiden Tagen erlebt und in den stillen Nachmittagen im Moor vorbereitet hatte, ihn innerlich aufwühlte und selbst die offensichtliche Unfähigkeit oder das Unvermögen, auch nur ansatzweise ebenbürtig zu wirken, konnte diesem Gefühl letztendlich nichts anhaben.
Sein Trotz war schon verflogen, als Ricky von Dülmen ihm seine Liebe zur mittelalterlichen Malerei gestand.
„Zu Schinken“, wie er lachend sagte, „vor allem zu Rubens und Cranach, dem Jüngeren, Christus und die Ehebrecherin“, ohne zu einem neuen Vortrag anzusetzen, und vorschlug, die Kirche zu verlassen.
Draußen war es inzwischen dämmrig, die kalt-feuchte Luft hing in nebeligen Schwaden über dem Rathausmarkt und die gelben Lampen umgab eine an den Rändern verlaufene Corona, sodass jede der Laternen ihr einsames Licht für sich zu behalten schien. Nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr verabschiedete sich von Dülmen fast überstürzt, er hatte es plötzlich sehr eilig.
„Ich bin nachmittags oft im Venezia“, sagte er, den Körper schon halb abgewandt, „wenn du also Lust hast …“
Er ließ den Satz unvollendet und ging über den Marienkirchhof Richtung Schüsselbuden davon, ohne sich umzudrehen. Abgeschlossenes Kapitel. Christian blieb einfach stehen und schaute ihm hinterher. Nach ein paar Augenblicken sog er tief die Luft ein, atmete hörbar aus und schlug den Weg in die entgegengesetzte Richtung zur Wahmstraße ein.
Von Dülmen holte weit mit großen Schritten aus, die Schultern fast bis zu den Ohren eingezogen, die Hände tief in den Taschen vergraben. Sein Atem bildete kleine graue Wolken, die stoßweise entwichen. Er folgte den Schüsselbuden bis zur Schmiedestraße, bog in die Große Petersgrube ein, schlug einen Haken in die Kleine Kiesau, um schließlich über die Parade und den Mühlendamm die Wallstraße zu erreichen. Das war ziemlich umständlich, der direkte Weg von der Marienkirche wäre viel kürzer gewesen, doch lag in der scheinbaren Ziellosigkeit seines Weges eine Absicht.
Er brauchte diese Umwege durch die dunklen, verwinkelten Gassen und Gruben und die Schatten werfenden Mauern, die ihn verschluckten, und als er in die breiteren Straßen einbog, war er ein anderer. Es war wie nach einer kleinen Metamorphose. Jetzt erst verlangsamte sich sein Schritt, die Schultern strafften sich und er bewegte sich, einem Schlendern ähnlich, auf die Mühlenbrücke zu.
Die Wallstraße war gesäumt mit Bäumen und dichtem Gestrüpp und nur vereinzelte Straßenlampen warfen spärliches Licht. Die Luft roch nach den Koksöfen, deren Rauch von der Feuchtigkeit in die Straßen gedrückt wurde. Über dem Mühlenteich hing ein zäher Nebel und das dunkle
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