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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ehmer
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immer noch eiskalt an. Ohne Handschuhe auf dem Rad! Er hatte einfach nicht daran gedacht, sie rechtzeitig aus der Truhe in dem Flur zu holen, in der die Wintersachen verstaut waren. Morgens fehlte ihm die Zeit, lange zu suchen.
    Der Temperatursturz war so plötzlich gekommen, dass er sich vollkommen bei der Auswahl seiner Kleidung verkalkuliert hatte. Er hätte mit dem Bus fahren sollen. Die Untertrave war von der Ostsee her in den Lübecker Hafen gedrückt worden und über die Ufer getreten und die Keller in den tiefer liegenden Straßen und Gruben waren schon vollgelaufen. Der Winter hatte zum ersten Mal seinen eisigen Atem über die Ostsee geblasen. Im Radio hatten sie angekündigt, dass die Temperaturen, von einem Tief in Finnland herrührend, in den nächsten Tagen unter die Zehn-Grad-Marke sinken würden. Dort herrschten bereits minus 34 Grad. Vor einer Sturmflut wurde gewarnt.
    Das Rad hatte er im Fahrradkeller des Katharineums stehen lassen, einem unbeleuchteten, dunklen Gewölbe, das ihm selbst noch bis in die Quarta viel Angst eingeflößt und anfangs zur Weigerung geführt hatte, überhaupt mit dem Rad zur Schule zu fahren. Er hatte den Bus genommen oder war die Dreiviertelstunde zu Fuß gegangen, am Johanneum vorbei, jedes Mal froh, nicht dort gelandet zu sein, einem reinen Jungengymnasium, das sich der Entwicklung zu einer gemischten Schule hin widersetzte, die das Katharineum schon abgeschlossen hatte.
    Die Konkurrenz zwischen dem Katharineum, dem Johanneum und der Oberschule zum Dom, kurz OzD genannt, seit der Sexta konstituierendes Bestandteil der Ich-Werdung als Katharineer, oder eigentlich schon bei der Wahl der Schule als bestimmendes Element mit bedacht oder gefühlt und zum sozialen Status hochstilisiert, durchzog das gesamte gesellschaftliche Leben der Stadt und hielt auch im Erwachsenenalter die Absolventen der jeweiligen Schule in ihren eigenen Bann geschlagen, ein nicht unbeträchtlicher kommunaler Faktor. Dabei ging es nicht nur um Vormachtstellungen im Rudern oder in der Leichtathletik, sondern man wetteiferte um historische Meriten und Einflüsse bei der Entwicklung der Hansestadt und machte sich das Erbe streitig. Das Katharineum mit der größeren Dichte an berühmtem historischen Personal und der längsten Verweildauer in der Stadt behauptete dünkelhaft seine Wurzeln in dieser Gegnerschaft und kompensierte so die Niederlagen bei den großen Sportfesten, in die die reinen Jungenschulen ein größeres Potenzial werfen konnten.
    Christian war allein in der Wohnung. Seine Mutter würde erst zum Abendbrot wiederkommen, sie war Besorgungen machen, wie sie es nannte. Er schaltete den Fernseher an. Kuba Imperial stand in geschwungenen Goldlettern auf dem dunkel gebeizten, furnierten Holz. Er drehte am Programmknopf, der, obwohl der Apparat neu war, schon ein wenig in seiner Führung wackelte, und suchte einen Film. Das westdeutsche Programm begann erst um siebzehn Uhr, auf dem Ostsender wurde er fündig, nachdem er die Zimmerantenne so lange gedreht und gebogen hatte, bis sich das Bild stabilisierte. Er platzte gerade in einem Kriegsfilm der DEFA in eine Szene einer Vernehmung von Gefangenen durch Wehrmachtsoldaten. Oder war es die SS? Die Gefangenen in schmutziger grauer oder gestreifter Gefängniskleidung, unrasierte südländische Gesichter mit gebogenen Nasen, die Soldaten in sauberen Uniformen mit kantigen, glatten Zügen. Das fiel ihm sofort auf. Der Film musste irgendwo in einem südlichen Land spielen, denn eine glühende Sonne tauchte alles in ein weißes Licht, das die staubigen Bodenwellen mit den verkrüppelten Akazien scharf schattierte. In der nächsten Szene: drei Gefangene auf den Knien in einem Kiesbett, wimmernd vor Schmerzen, bis einer von ihnen umfiel, von Tritten der sie bewachenden Soldaten malträtiert.
    Ein neuer Schnitt: eine überfüllte Gefangenenzelle mit eng aneinander gepressten Leibern, überall Schmutz. Auffällig war, dass alle Männer die gleichen, wie bläuliche Schatten konturierten Mundpartien hatten und irgendwie zigeunerartig aussahen. Sie erregten sich flüsternd und wild gestikulierend in heftigen Debatten.
    Christian fand keinen Einstieg in die Handlung und nach ein paar Minuten machte er den Fernseher aus und klappte die Flügeltüren zu. Doch die Bilder blieben eine Weile haften. Die Bildschnitte und der Schwarz-Weiß-Kontrast wirkten in ihrer Strenge fast dokumentarisch und darin lag etwas Suggestives, ein Sog, dem er sich nicht entziehen konnte.

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