Anderer Welten Kind (German Edition)
Obwohl diese schmutzigen Männer in der Gefangenenkleidung weder Sympathie oder gar Empathie in ihm weckten und eher den Eindruck auf ihn hinterließen, als würden sie, wenn sie schon so aussähen, nicht ganz unschuldig in die Situation geraten sein, löste der Umgang der Soldaten mit ihren Gefangenen doch eine Art Widerspruch in ihm aus. Sein Gerechtigkeitssinn regte sich, wer schon am Boden liegt, muss nicht auch noch getreten werden. Gleichzeitig wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, der Ostsender könnte etwas anderes als kommunistische Propaganda ausstrahlen. Ihm waren da schon die Soldaten vertrauter, deutsche Gesichter, an denen war nichts Falsches. Dass sie möglicherweise etwas Falsches getan hatten, darüber ließ sich in diesem Moment nicht so einfach hinweggehen.
Er konnte die Szenen nicht ganz aus dem Kopf verbannen und der leise Zweifel warf seine Haken. Immerhin gab es Gerüchte, dass die Wehrmacht und die SS etwas mit den Kriegsgräueln zu tun gehabt hätten, was sein Vater jedoch vehement bestritt und als Lügen abtat, die die Roten streuten. Die Waffen-SS sei sauber gewesen, so sein Credo, und mit der SS habe sie nichts zu tun gehabt. Die Konzentrationslager waren nicht zu leugnen, aber bei den Russen gäbe es auch Lager und selbst die Engländer hätten ja die Konzentrationslager in ihren afrikanischen Kolonien erfunden.
Als er ins Schlafzimmer ging und die Nachttische seiner Eltern zu durchsuchen begann, hatte er den Film schon wieder vergessen. Das machte er oft, wenn er allein war, und so wusste er schon lange vor seiner Konfirmation, dass er eine Armbanduhr geschenkt bekommen würde. Es war eine gebrauchte Uhr gewesen und die Enttäuschung, die er darüber empfand, relativierte sich in den Wochen vor der Feier. Er hatte sie so oft angeschaut und in den Händen gehalten, dass sie ihm sehr vertraut war, und es fiel ihm schwer, die angemessene Überraschung zu zeigen, die von ihm bei der Übergabe erwartet wurde. Ihm schien sie ganz gut gelungen, aber ein Blick zu seiner Schwester Renate, die die Aushändigung beobachtet hatte, machte alles zunichte. Sie wusste Bescheid.
„Heuchler“, zischte sie ihm im Laufe des Nachmittags zu.
Christian befürchtete noch Tage später, dass Renate ihn verriete, aber sie schien den Vorfall vergessen zu haben.
Die Durchsuchungen der elterlichen Schränke förderten vieles zutage. Fast alle Weihnachtsgeschenke waren ihm schon im Herbst bekannt und manchmal schaffte er es sogar, seine Freude über die Erfüllung eines ganz besonderen Wunsches bis zum Fest zu bewahren. Einen Kraftakt bedeutete es, sich nichts anmerken zu lassen. Wenn ihm etwas nicht gefiel, streute er schon mal einige Bemerkungen beim Abendessen in die Runde, ganz allgemein, dass er dieses oder jenes ganz furchtbar fände, und an den verstohlenen Blicken der Eltern merkte er, dass die Botschaft angekommen war, was aber nicht zwangläufig zu einem Austausch der verschmähten Gabe führte.
Als er in den Nachttischen nichts Neues entdeckte, nahm er sich Ingeborgs Wäschefach im Schrank vor. Er liebte den frischen Geruch, der ihm entströmte, hielt sich aber nicht mit dem Durchsuchen der Wäsche auf, sondern schob seine Hand unter den Wäschestapel.
Er wollte schon aufgeben und sich notgedrungen den Hausaufgaben widmen, als seine Finger an der Schrankrückwand auf einen Gegenstand stießen. Zwischen Daumen und Zeigefinger zog er ein in mehreren Schichten Zeitungspapier eingeschlagenes Büchlein hervor. Es schien schon lange dort gelagert worden zu sein, denn das Zeitungspapier trug das Datum 14. September 1952, und an den fehlenden Falten und Zerknitterungen konnte Christian sehen, dass es nicht häufig aus seiner Umhüllung gewickelt worden war.
Ganz vorsichtig schlug er die Ecken zurück und begann, das Büchlein auszupacken. Die einzelnen Zeitungsseiten legte er übereinander, damit er die Reihenfolge nicht durcheinanderbrachte. Zum Vorschein kam ein fast quadratisches Tagebuch. Es war in dunkelgrünes Leder eingebunden und mit einem runden messingfarbenen Schloss und einer ledernen Schlaufe mit goldener Einfassung gesichert. Das Schloss war mit kleinen Nägeln, die einen Kreis bildeten, in dem Umschlag verankert, einer der rundköpfigen Nägel war durch einen gewöhnlichen Nagel ersetzt worden. Der Schlüssel lag nicht dabei. Das Schloss umspielte ein blumenartiges, bräunliches Ornament, das sich auch auf der Rückseite wiederfand. Das Leder war abgeschabt, sodass besonders am
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