Anderer Welten Kind (German Edition)
War das Tante Hermine? Er hatte keine Ahnung und nahm sich vor, gleich am nächsten Tag das Familienalbum zu durchsuchen.
Was ihn am meisten erschütterte, war die unbegreifliche Anzahl der Liebschaften, die sie ihrem Tagebuch anvertraut hatte, und die Leidenschaft, mit der sie sie verfolgt hatte, mit all ihren Lügen und Selbstverleugnungen, und Christian fühlte, dass hinter den Lügen seiner Großtante ein instinktiver Wille stand, alles auszukosten, nichts einer von anderen gelebten oder zur Schau gestellten Moralität zu opfern. Es war eine intime Beichte, ein Vorstoß in die geheimsten Winkel ihres Lebens und eine Offenbarung. Sie hatte sich preisgegeben, verletzbar gemacht, tief in ihr Inneres schauen lassen. Diese Intimität berührte Christian stark und er spürte fast eine erotische Nähe zu Tante Hermine, als wenn in der Teilung des Geheimnisses ein Versprechen lag.
Er begriff plötzlich, dass Tante Hermine Persona non grata war und eine ganz unmögliche Person dazu, eine fahrende Schauspielerin, die in Trennung lebte, und sie deswegen unter den Tisch gekehrt worden war. In den Augen seiner Familie war das sicherlich der Grund, sie totzuschweigen. Aber hiermit wollte sich Christian nicht beschäftigen, nicht heute Nacht. Heute Nacht war ihm der Sinn nach dem Lieben und dem Leiden seiner Großtante. Mehr Leid als Liebe? Mehr Liebe als Leid? War sie auf der Suche nach der großen, der einzig wahren Liebe gewesen und all ihre Liebschaften hatten das nicht gehalten, was sie ersehnt hatte? War sie benutzt worden von den Männern, die nur das eine wollten? Einmal deutete sie so etwas an.
Christian nahm das Buch wieder zur Hand, suchte nach Bestätigungen, fand aber Passagen, in denen Hermine in ihrer Liebe erkaltet war, sich gemein und hässlich aufgeführt und sich neuen Männern hingegeben hatte. Sogar zwei Männern gleichzeitig. Das war unglaublich für ihn, unvorstellbar, und obwohl Christian noch gar keine eigene Moral für sich entwickelt hatte, sondern von der geborgten lebte, Produkt der Vorstellungen anderer, einer Moral, die sich in heller Entrüstung befinden sollte, spürte er nichts dergleichen. Es schwang schon ein wenig von dem Trotz mit, den seine Tante gespürt haben musste, als sie diesen Weg gegangen war, trotz der Warnungen ihrer Mutter und dem schlechten Ruf, dem sie in der Garnisonsstadt ausgesetzt gewesen war.
Als es ihm endlich gelang einzuschlafen, schwirrte Tante Hermine in seinen Träumen herum und er erwachte am nächsten Morgen mit dem Gefühl des Bedauerns, sie nicht zu kennen und wiederum so gut zu kennen, wie vielleicht nur seine Mutter sie gekannt hatte, mit der er jetzt ein Geheimnis teilte, ohne dass sie etwas ahnte. Und doch sah er Ingeborg Lorenz von diesem Morgen an mit anderen Augen. Er suchte nach Hinweisen, die Aufschluss über das Verhältnis seiner Mutter zu ihrer Tante hätten geben können, denn das Leben von Tante Hermine, oder besser der kurze Ausschnitt aus ihrem Leben, hatte sofort in ihm den Wunsch geweckt, alles von ihr zu erfahren. Sollte da eine Seelenverwandtschaft zwischen ihm und Tante Hermine im Spiel sein? War seine Begegnung mit Ricky nicht schon der erste Schritt weg vom eingetrampelten Pfad seiner bisherigen Lebensstrecke? Seine Hingabe zu Tante Hermine wuchs und er fühlte sich nicht mehr allein. Er hatte eine Vertraute gefunden.
5. Kapitel
Die erste Kältewelle dieses Winters war einem schmutziggrauen Schmuddelwetter gewichen. Die Schäden, die der Sturm angerichtet hatte, waren noch nicht beseitigt; weite Flächen waren in der Innenstadt überflutet. Im Vorwerker Hafen mussten Teile der Holzlager geräumt werden und das Betriebsgelände der LVG stand unter Wasser. Immer noch waren zahlreiche Häuser in den Gruben an Unter- und Obertrave von der Außenwelt abgeschnitten und das technische Hilfswerk und die Feuerwehren fuhren mit ihren Schlauchbooten auf den Gassen zwischen den Häusern und versorgten die Menschen. Schwäne wurden von den Fenstern aus gefüttert.
Christian war mit Helga Korten verabredet. Sie konnten sich anfangs nicht einigen, wohin sie gehen sollten, und standen unschlüssig an der Bushaltestelle am Heiligengeisthospital, an der Christian auf Helga gewartet hatte. Der feine Nieselregen bestäubte ihre Haare und legte sich wie ein Flaum auf die Ärmel der Jacken. Helga schlug das Venezia vor, was Christian ein wenig zu heftig ablehnte und dafür einen erstaunten Seitenblick erntete. Die Vorstellung, Ricky könnte dort sitzen,
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