Anderer Welten Kind (German Edition)
war ihm äußerst unbehaglich. Er hoffte inständig, ihn dort nicht anzutreffen, er hätte sich nicht zu verhalten gewusst. Sollte er Helga etwas sagen? Was könnte er ihr sagen? Die Deepenmoorgeschichte war gänzlich unmöglich. Im tiefsten Herzen galt für Helga das Gleiche wie für Stefan, er wollte beide nicht dabei haben. Oder doch? Ein kleiner Ausläufer in seinem inneren Gebirge aus Abwehr und Erklärungsnotstand schob sich ins Bild und ließ eine Ahnung aufkommen, dass er mit einer plausiblen und geschönten Darstellung für Helga interessanter erscheinen könnte. Aber wollte er das? Er verwarf sofort den Gedanken wieder; Malskat und von Dülmen waren seine Sache. Er hatte sich die Beine in den Bauch gestanden. Es war sein Geheimnis.
Ins Niederegger wollte Helga nicht gehen und ein anderes Café, das nicht nur von älteren Menschen bevölkert war, fiel ihnen nicht ein. Also fügte er sich schulterzuckend, schlenderte mit Helga die Königstraße am Katharineum vorbei Richtung Eiscafé, das seine geschmiedeten Pforten mit dem Rad und dem Schwert, dem Wahrzeichen der Schule, längst geschlossen hatte. Je näher sie der Hüxstraße kamen, desto inständiger hoffte er, von Dülmen nicht dort sitzen zu sehen. Eine Strategie konnte er sich nicht zurechtlegen, Helga nahm ihn zu sehr in Beschlag. Er würde zuerst einen Blick ins Café werfen und gegebenenfalls mit einer Ausrede einfach daran vorbeigehen.
Sie bildeten ein schönes Paar. Ihre langen, glatten, dunklen Haare trug Helga zum Pferdeschwanz gebunden und der enge Mantel unterstrich ihre schlanke Figur. Sie hatte ein offenes, fröhliches Wesen, das sich auch in ihrem Gesicht widerspiegelte. Braune Augen, gezupfte Augenbrauen, ein voller Mund mit einer Reihe kleiner gerader weißer Zähne und eine Stupsnase, die vielleicht ein wenig zu niedlich geraten war.
Helga Kortens Eltern, hätten sie gewusst, mit wem ihre Tochter den Nachmittag verbrachte, wären nicht gerade begeistert gewesen über Christians Herkunft, es hätte sie aber nicht daran gehindert, ihn offen und freundlich aufzunehmen. Martin Korten, Architekt und Mitglied im Bund Deutscher Architekten, wie ihn ein messingfarbenes Schild neben der Haustür auswies, zählte sich zu der liberalen, weltoffenen Mittelschicht in der Hansestadt, die der CDU und dem Ahlener Programm nahe stand.
Herr Korten verdiente gut am Wiederaufbau im sozialen Wohnungsmarkt. Die viergeschossigen Neubausiedlungen in den Stadtteilen St. Gertrud, Wesloe, Marli, Brandenbaum, Eichholz, Sankt Jürgen, Moisling, Stockelsdorf und Sankt Lorenz Nord und Mitte umgaben Lübeck wie einen Ring und trugen seine Handschrift und schon deswegen hatte er nichts gegen die neunzigtausend Flüchtlinge, die Lübeck aufblähten und die Stadtgrenzen weit ins Umland schoben.
Seine Frau Marlene, Marli genannt, gehörte zur alten Lübecker Aristokratie der Kaufmannsloge mit Stammsitz in der Schiffergesellschaft. Ihr Vater und dessen Vater und dessen Vater hatten ihr Geld mit Import-Export gemacht und ein Teil der Lagerhäuser trug unter dem Lübecker Adler den Schriftzug Karlsberg und Söhne, und darunter Einfuhr-Ausfuhr und in der dritten Zeile Internationale Spedition und Reederei, und an drei Schiffschornsteinen mittelgroßer Frachter leuchtete die golden eingefasste schwarze Schrift auf rotem Grund und bildete mit dem Stadtwappen zusammen das sichtbare Zeichen einer langen Handelstradition, die ihren Ausgang in den glorreichen Zeiten der Hanse genommen hatte. Im Übrigen hatten sich die Handelswege seit dem 15. Jahrhundert kaum geändert und Karlsberg und Söhne hielten es sich zugute, einen wenn auch bescheidenen Teil ihres Handels bis nach Leningrad und Gdansk zurückgewonnen zu haben, die neue Hallstein-Doktrin hin oder her. Marli Korten entstammte nicht nur dieser alten Familie, sondern ihre Haltung und ihr Aussehen ließen keinen Zweifel an ihrem aristokratischen Erbe.
Jedes Mal, wenn Christian den weißen, klinkerverputzen Bungalow in der Antonistraße betrat, eine Villen bestückte Seitenstraße an der Ratzeburger Allee, der im Untergeschoss eine riesige Garage für zwei Autos barg, tauchte er ein in eine gediegene Welt bürgerlichen Wohlstands, die nicht prahlte und nicht zur Schau stellte, sondern einfach nur da war in ihrer Selbstverständlichkeit der Zugehörigkeit zu einer Klasse, die es nicht nötig hatte, mit protzigen Symbolen ihren Stand zu behaupten. Alle Familienmitglieder strömten diese Sicherheit aus, die eher als
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