Anderer Welten Kind (German Edition)
wollen. Nur ein älteres Ehepaar auf der anderen Straßenseite, eng unter einem Regenschirm aneinandergedrängt, hatte sich als Zuschauer eingefunden. Zwei durchnässte und von braunen Wasserflecken übersäte Pappschilder verkündeten mit verwaschenen, ausgelaufenen Buchstaben „KZ-Handlanger Veit Harlan hetzt gegen moderne Kunst“ und „Protest gegen KZ-Gehilfen Veit Harlan“. Die Schilder, die sich in Auflösung befanden, wurden nur halbherzig an dünnen Leisten hochgehalten, und sie korrespondierten mit dem Zustand der Gruppe, die mit ihrem Latein am Ende schien. Der ganzen Szenerie haftete etwas Unwirkliches an.
Die Unentschlossenheit der Gruppe, die vielleicht noch von ihrer Botschaft überzeugt, aber weit entfernt jeglichen messianischen Eifers war, hatte kein Publikum, an das es sich agitierend hätte wenden können, und um sich selbst zu feiern, war dieser dunstige Spätnachmittag zu unwirtlich und zu nass und zu kalt und zu friedvoll. Von den unter der Feuchtigkeit geduckten Menschen ging schon fast etwas Melancholisches aus, als wenn ein Bedauern, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, zur stillen Resignation geführt hätte, zu einer traurigen Bewegungslosigkeit. Wie sollte auch eine aggressive Stimmung aufkommen, in der geballte moralische Empörung mitschwingen konnte, wenn einem das Wasser den Nacken herunterlief? Der Protest benötigt Gegnerschaft und selbst die Polizisten als Bewahrer der Ordnung schienen eine Eskalation nicht zu befürchten und hatten ihre Formation aufgelöst. Sie standen unaufgeregt im Eingangsbereich herum, schauten zum Himmel und auf die Uhr und dachten sich wahrscheinlich, dass es langsam reiche, sie hätten auch noch etwas anderes zu tun. Bei einem von ihnen, der seinen Blick über die Gruppe gleiten ließ, deutete sich eine verhaltene Neugierde an und er stieß seinen Kollegen an und begann mit ihm ein Gespräch, wobei er hin und wieder seinen Kopf zu den jungen Leuten mit den Schildern drehte.
Es war kurz vor Beginn der Vorstellung um achtzehn Uhr. Das Filmplakat über der Eingangstür warb mit dem Film Anders als du und ich (§ 175) und die Konterfeis von Paula Wessely, Paul Dahlke, Christian Wolff und Ingrid Sten blickten ernst in die Gesichter der Passanten, sich offenbar einer schweren moralischen Aufgabe bewusst.
Christian, der neugierig auf der anderen Straßenseite stehen geblieben war, überquerte die Straße in einem sicheren Abstand und verstand gar nichts. Die Schilder lösten keinerlei Assoziationen aus, sie hätten auch chinesisch sein können. Von dem Film hatte er schon gehört, ein Film über Hundertfünfundsiebziger. Die Schauspieler kannte er und Christian Wolff hatte er schon in einem anderen Film gesehen, da hatte er einen aufsässigen Heranwachsenden gespielt. Aber wieso die Schilder mit der Aufschrift „KZ-Gehilfe“? Er nahm sich vor, morgen Stefan zu fragen, obwohl er bezweifelte, dass ausgerechnet Stefan ihn aufklären könnte, Helga lieber nicht, er wollte nicht als Hinterwäldler gelten, und Ricky von Dülmen schon gar nicht.
Die Moltkestraße war von schönen, alten Kastanienbäumen gesäumt. Die braunen Blätter auf dem Gehsteig glänzten im Schein der Bogenlampen und die stacheligen Früchte lagen aufgeplatzt im Laub. Hier, unmittelbar hinter der Rehderbrücke, die den alten Stadtkern als Insel begrenzte, hatte sich das Lübecker Bürgertum mit klassizistischen Villen eine standesgemäße Entourage geschaffen. Alle Häuser hatten schmiedeeiserne Gitter, die einen kleinen Vorgarten mit Rhododendren und Hängeweiden zur Straße hin schützten. Hohe Räume mit bis auf den Boden reichenden Fenstern und schweren hölzernen Läden ließen Blicke in die Wohlanständigkeit zu. Die Haustüren schmückten gusseiserne Klopfer als Löwen– oder Adlerköpfe.
Christian liebte diese Straße, die in Richtung Brandenbaum zuerst durch die Bundeswehr- und dann durch rotklinkerne Mietskasernen hinter der Wakenitz mit der zunehmenden Entfernung zum Stadtzentrum das soziale Gefälle prägte. Er liebte es, das Interieur zu bestaunen, wenn es dämmrig wurde und die Lampen angezündet waren und alles in ein warmes Licht tauchten, das für ihn der Maßstab an Gediegenheit darstellte. In dem ersten Haus auf der linken Seite, von der Stadt kommend, wohnte ein Klassenkamerad von ihm, Rechtsanwaltsohn Sebastian Müller, der nie sitzenblieb, weil sein Vater großzügig die Aufstockung des Katharineums mit einer dritten Etage finanziell unterstützte. Sie
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