Anderer Welten Kind (German Edition)
gegen sechzehn Uhr dreißig, mit dem langsamen Einsetzen der abendlichen Dämmerung, waren alle Tische besetzt. Das Stimmengewirr und der Zigarettenrauch, der in dicken Schwaden über den Tischen waberte und unterhalb der Lampen das Licht wie einen Scheinwerfer reflektierte, schufen eine wohlige Atmosphäre. Sie blieben noch ein wenig sitzen und genossen ihren neuen Status, besonders als sie einen Schüler des Katharineums aus der Unterprima erkannten, der zu ihnen herüberstarrte. Sie nickten kurz und wandten sich wieder ihrer intimen Vertrautheit zu, nichts schien jetzt außerhalb von ihnen zu existieren. Natürlich verbuchte Christian den Blick als Punkt für sich und registrierte zufrieden den Neid in den Augen des anderen. Er legte den Arm um Helgas Schultern.
Gerade als sie sich entschlossen zu gehen, stand plötzlich Ricky von Dülmen mit einem schmalen Lächeln im Fenster, deutete ein Winken an und gab ihm mit der Hand zu verstehen, dass er reinkommen wolle. Helga schaute über ihre Schulter, ob sich jemand hinter ihnen befände, musste aber feststellen, dass ganz untrüglich Christian gemeint war.
„Kennst du den?“, fragte sie.
Die zwanzig Sekunden zwischen von Dülmens Erscheinen am Fenster und seiner Begrüßung am Tisch waren für Christian ein Niagarafall der Gefühle, ein Sturz ins Bodenlose. Er wusste nicht, wo er hinschauen sollte, ihm fiel nicht ein, was er Helga antworten konnte. Genau das wollte er vermeiden, die schlimmste aller seiner Vorstellungen war eingetreten. Er hoffte nur inständig, dass von Dülmen sich nicht zu ihnen setzen würde. Es wäre so ärgerlich, wenn der Helga von Malskat oder vom Deepenmoor erzählen würde, vor allem in seiner nicht sehr schmeichelhaften Version. Das sollte sein Geheimnis bleiben und er hatte nicht vor, es ausgerechnet jetzt zu lüften. Hoffentlich fragte Helga nicht, woher sie sich kannten. Sie würde es tun und er hatte keine Geschichte parat. Wieso hatt er eigentlich geglaubt, es würde alles glattgehen? Das Ende dessen, was noch gar nicht begonnen hatte, stand ihm vor Augen und löste ein nervöses Zittern der Knie aus, die Gott sei Dank unter dem Tisch versteckt waren.
Als er an diesem Punkt seiner Gedanken angekommen war, hatte sich von Dülmen durch die Tischreihen gezwängt und stand vor ihnen und sagte: „Hallo, so sieht man sich wieder.“ Er lächelte sein gewinnendes Lächeln und schaute von Christian zu Helga und wieder zu Christian und wartete augenscheinlich auf eine Reaktion von ihm, die aber ausblieb. Der starrte ihn nur an und dachte daran, wie er hier bloß rauskäme. Ricky von Dülmen war mit einer dreiviertellangen Joppe mit dunkelroten Applikationen bekleidet. Dazu trug er enge Röhrenhosen und schwarze Slipper mit ledernen Bommeln. Die zurückgekämmten Haare sahen feucht aus und hielten vorbildlich ihre Fasson. Er hätte einer amerikanischen Reklame für Teddy-Boys entsprungen sein können, so perfekt fügte sich seine Gesamterscheinung zusammen. Helga registrierte jedes Detail, schaute ihn staunend-fragend an und stieß dann Christian leicht mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Hallo, Ricky, was machst du denn hier?“, sagte Christian, um irgendetwas zu sagen.
Sogleich bedauerte er diese Frage, sie war ja geradezu eine Einladung, von ihrem Treffen gestern zu erzählen und der vagen Möglichkeit, sich genau hier über den Weg zu laufen. Aber Ricky lächelte weiter und sagte, dass er mit einem Freund verabredet sei, er sei wohl zu früh dran. Er schaute sich im Café um, ob er seine Verabredung nicht übersehen hätte, und sagte, er könne sich ja ein paar Minuten zu ihnen gesellen, wenn sie nichts dagegen hätten. Bevor Helga und Christian fast gleichzeitig anhuben – er: sie wären gerade auf dem Sprung, und sie: aber gern, bitte sehr –, hatte von Dülmen sich an den Nachbartisch gewandt, an dem eine junge Frau vor einer Tasse Schokolade saß und die Getränkekarte studierte, und nach dem freien Stuhl gefragt. Die Frau lächelte liebenswürdig und stimmte nickend zu, unterstützt mit einer einladenden Geste ihrer rechten Hand. Von Dülmen platzierte seinen Stuhl zwischen die beiden.
An seinen Fingern klebten Farbreste und den Handrücken zierte ein hellgrüner Streifen. Unter den Fingernägeln hatte sich weiße Farbe angesammelt. Als er bemerkte, dass Helga seine Hände genau inspizierte, zog er sie zurück auf seine Knie, überlegte es sich dann anders und legte sie übereinander vor sich auf den Tisch.
Zu Christian
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