Anderer Welten Kind (German Edition)
zu einem tiefen Braunton nachgedunkelt und nur noch in Nuancen unterscheidbar.
Ein großes Bücherregal, vollgespickt mit ledernen Rücken, erstreckte sich über die hintere Wand, kleine silberne Lampen mit flexiblen Armen wuchsen aus dem obersten Bord, eine integrierte Trittleiter erleichterte den Zugriff zu den oberen Fächern. Ein großes, schwarzes Klavier mit abgestoßenen Ecken stand an der Wand neben dem Erker, der Deckel war geöffnet, in zwei Kerzenhaltern steckten heruntergebrannte weiße Kerzenstummel. Ein riesiger Packen Noten, der beinahe umzukippen drohte, balancierte auf der rechten Ecke. Der Notenständer war leer. Ein Klavierschemel mit dem gleichen Bezug wie die anderen Möbel stand akkurat vor dem Klavier, die Sitzfläche leicht zum Klavier hin geneigt.
Christian mochte die Wohnung auf Anhieb. Nicht in dem Sinne, dass er für alte, dunkle und abgegriffene Möbel und verstaubtes Interieur schwärmte, Eichenmöbel in ihrer Schwere mit den dunkel gebeizten Oberflächen und der soliden Wuchtigkeit fand er scheußlich. Er mochte die Gesetztheit, die dem Zimmer innewohnte, das Aufgehobensein in einer Umgebung, die das alles umfasste, was er nicht war. Es war die andere Welt, hier oder bei den Kortens, die er betrat, die ihm fremd war und die ihn anzog, weil in ihr eine Sicherheit verborgen lag, die er nicht kannte und die ihm erschien, als wenn ein Teil seiner Probleme und Komplexe ihm nicht anhaften würden, wenn er hier aufgewachsen wäre. Dazu kam, dass der Mangel an Tradition oder Kultur, den seine Familie ihm aufbürdete, auch einen Mangel an Urteilsfähigkeit mit sich brachte, den er zu kompensieren suchte, indem er sehr aufmerksam beobachtete und bereit war, anderer Wertschätzungen zu übernehmen und sich anzueignen.
Vielleicht war er auch deswegen eingeschüchtert, weil er hier versammelt sah, was für ihn der Inbegriff eines gestandenen bürgerlichen Lebens war. Michael in seiner Sicherheit, die ihn umgab wie eine Aura, die Großmutter, die die gleiche Überlegenheit ausstrahlte, und die Einrichtung, die, aus glanzvollen Tagen hinübergerettet, keineswegs verarmt oder heruntergekommen wirkte, sondern wie eine Reminiszenz an die solide Dauer einer selbstbewussten Wertigkeit. Bei den Kremers und ihrer vollgeladenen Wohnung hatte er diese Assoziationen nicht, dort fühlte er sich wie bei sich zu Hause.
In Christians Familie musste alles neu sein. Das lag nicht nur an dem Verlust durch die Flucht und den Nullanfang in Lübeck. In den Neuanschaffungen zeigte sich der Wille an der Teilhabe am Aufbau einer Zukunft und wie ließ er sich besser präsentieren als durch die in dieser neuen Zeit geprägten Stile modernen Wohnens? Das hatte nichts Belastendes. Helle, pastellene Farben und moderne Formen wirkten nicht nur optimistisch, sie sollten auch die optimistische Grundeinstellung der Familie Lorenz vermitteln, jedenfalls nach Ingeborgs Auffassung. Die Beliebigkeit der ausgesuchten Objekte störte sie nicht.
Christian schweifte bei seinem Rundblick mit seinen Gedanken ab und er dachte plötzlich, dass er von nirgendwoher käme, dass sein Leben und das seiner Familie praktisch erst hier in Lübeck begonnen hatte, dass es nichts gab, worauf er sich beziehen, keine Tradition, zu der er sich öffentlich bekennen konnte. Kleine Schwarz-weiß-Fotos mit gezackten Rändern in den auf der Flucht geretteten Fotoalben der Eltern wiesen spärlich in Ausschnitten auf eine unscharfe Anrichte oder ein Sofa, zugestellt mit den Personen, die das Objekt des Fotoapparates gesucht hatte, daraus ließ sich aber keine Tradition oder gar Kontinuität basteln. Das Tagebuch von Tante Hermine füllte diese Lücke noch nicht aus, dazu waren die Eindrücke zu unverarbeitet, es gehörte bisher nicht zum Kanon der eigenen Wertschöpfung.
Diese Erkenntnis traf ihn unvorbereitet und er musste schlucken und nach einem Räuspern sagte er mitten hinein in das Gespräch zu Michael, dass ihm die Wohnung gefiele, sehr sogar.
„Ich kenne sie nicht anders, ich bin hier geboren“, antwortete Michael, „aber ich möchte sie mit nichts in der Welt tauschen.“
„Was? Den alten Kram findest du gut?“
Helga schien entsetzt, ihrem Gesicht nach zu urteilen. Sie riss die Augen auf, als wenn sie nicht glauben konnte, was sie gerade gehört hatte. Was war bloß mit den Jungen los? Zuerst Christian mit seinen ollen Bildern und jetzt Michael mit seiner noch olleren Wohnung? Aber ehe sie fortfahren konnte, sich zu belustigen oder zu
Weitere Kostenlose Bücher