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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ehmer
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Es war unfassbar, wie seine dicken Finger in die Tasten fuhren oder sie sanft streichelten, aber meistens hämmerte er Boogie-Woogie oder Dixie oder Blues in die Klaviatur, vorwiegend jedoch improvisierte er frei und sein mächtiger Körper schwang hin und her und sein Kopf knallte fast auf den Notenständer. Er stieß unartikulierte Laute aus oder begleitete einzelne Melodiefragmente mit herausgestoßenen Ba-Ba-Bams. Klassik war ihm zuwider, zu viel davon im Klavierunterricht geschluckt, sagte er. Aber manchmal, wenn er allein war und traurig, spielte er Erik Saties Nocturnes oder Konzert Nr. 1 von Schostakovitsch und dicke Tränen rannen ihm beim Largo über die Wangen und er ersetzte die Trompete so gut er konnte durch Improvisation oder ließ sie einfach weg. Im letzten Allegro bei der Parodie auf Beethovens Wut über den verlorenen Groschen schrie und tobte er. Danach fühlte er sich besser.
    Er weigerte sich, öffentlich aufzutreten, und sämtliche Versuche der Schulleitung, ihn dazu zu bringen, bei Schulfesten ein kleines Konzert zu geben und es damit aufzuwerten, verliefen im Sande. Da war nichts zu machen, das interessierte ihn nicht. Sturheit war ihm ein zweites Ich.
    Pünktlich um achtzehn Uhr klingelte Helga an der Wohnungstür im dritten Stock in der Falkenstraße Nr. 18, die schon in den Klingelton hinein geöffnet wurde. Helga begrüßte Michael mit einem Kuss auf den Mund und tätschelte ihm leicht die Schulter. Dann wandte sie sich Christian zu und schob ihn einfach in den Flur vor Michael.
    „Kennt ihr euch?“, fragte sie. „Das ist Christian, mein Freund.“ Michael musterte Christian kurz, dann nickte er und sagte: „Rudern, vom Sehen.“ Sie schüttelten sich die Hände, beide um einen festen Druck bemüht und beide hätten nicht sagen können, ob sie sich auf der Stelle sympathisch fanden. Neusprachler und Altsprachler hatten am Katharineum wenig miteinander zu tun. Obwohl es parallele Jahrgangsstufen waren, trennten sie Welten. Die Kinder aus den Flüchtlingsfamilien oder unteren sozialen Schichten besuchten selbstverständlich die neusprachlichen oder mathematischen Zweige, genauso selbstverständlich, wie sich kaum jemals ein Mädchen in eine Latein- und Griechischklasse verirrte. Die Altsprachler waren entweder gut betucht und mussten sich aus Familientradition die altphilologische Bildung einverleiben oder sie waren weltfremde, introvertierte Spinner, die Cicero auswendig kannten, nicht von dieser Welt (dachte Christian). Michael wollte so gar nicht in das gängige und vor allem von den Neusprachlern kolportierte Bild passen.
    Christian war viel stärker mit Vorurteilen und Ängsten behaftet als Michael und seine Bewegungen wurden linkisch und steif. Es ihm fiel sichtlich schwer, sich in dieser neuen Umgebung wohlzufühlen, während Michael souveräner wirkte und es wohl auch war. Er rief über seine Schulter in den Flur „Oma, sie sind da!“ und seine Großmutter, eine stattliche Frau um die sechzig mit einem großen Busen und zu einer kühnen Welle hochgesteckten Haaren, erschien einen Augenblick später, begrüßte Helga ebenfalls mit einem Küsschen auf die Wange und Christian sehr herzlich, um sich sogleich wieder zurückzuziehen mit dem Hinweis, dass Michael ja wisse, wo sich die Sachen befänden. Der übernahm auch sofort die Rolle des Gastgebers und bot Tee und Plätzchen an, die schon auf einem Tablett in der Küche angerichtet waren.
    Um den kleinen Tisch im Wohnzimmer gruppiert, wollte ein Gespräch zuerst nicht richtig aufkommen und Christian nutzte die Zeit, in der Michael und Helga Familiäres und Vertrautes austauschten, für einen Rundblick. Das Zimmer war lange nicht renoviert worden. Graugrüne dunkle, in den Ecken nachgedunkelte und an den Übergängen eingerissene Tapeten dämpften alles Licht. Alles war alt in dem Raum. Das dunkle Holz der Stilmöbel war an den Griffstellen aufgehellt, die dunkelgrüne Samtbespannung verschlissen. Stehlampen mit Jagdmotiven auf den gerafften Schirmen zeigten braune Flecken, der schwere Orientteppich war an den gebräuchlichsten Wegstrecken ausgetreten. An den Wänden hingen Bilder mit Jagdszenen oder alten Segelschiffen.
    Ein Bild faszinierte Christian besonders: In eine Berglandschaft mit schon teilweise abgeplatzter Farbe war eine Uhr integriert mit verschnörkelten, leicht verbogenen Zeigern. In der Uhr steckte ein kleiner Schlüssel zum Aufziehen. Die Uhr stand. Auch dieses Bild schien sehr alt zu sein, denn die Farben waren

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