Anderer Welten Kind (German Edition)
endlich einmal Helga etwas zeigen zu können, was ihn interessierte und was er mit niemandem teilte. Wer in seinem Alter mochte schon solche Bilder! Das gefiel ihm, das machte ihn selbst in seinen Augen bemerkenswert. Nur schade, dass er ihr jetzt keinen kleinen Vortrag über Farben, Stil, Pinselführung, Epoche und vor allem den Maler halten konnte, er hatte keine Ahnung. Ebenso wenig traute er sich, ihr zu sagen, dass er selbst malte, so viel Vertrauen hatte er nicht. Auch die Bedienung, die er einmal gefragt hatte, wusste nur, dass die Bilder schon immer da hingen. Prompt fragte Helga nach dem Maler und er musste ihr eine Antwort schuldig bleiben, was ihn innerlich maßlos ärgerte, es wäre so vollkommen gewesen.
Sie ließen sich durch die Straßen treiben und stellten einen Wunschzettel zusammen mit all den Schätzen, die sie in den Schaufenstern entdeckten, bis die Abenddämmerung anbrach. Für Helga hatte Christian eine Bernsteinhalskette mit einer eingeschlossenen Fliege ausgesucht und sie war ganz gerührt, weil die Kette wirklich wunderschön war. Sie wagte es nicht, ihm das Radio zuzuschanzen, stattdessen verfiel sie auf einen schwarzen Rollkragenpullover und sah ihn an einem Caféhaustischchen an der Seite von Ricky sitzen mit einer Zigarette in der schlanken Hand, deren Rauch leicht aufkräuselte. Dieses Bild gefiel ihr, obwohl es an der Wirklichkeit doch ziemlich vorbeischrubbte. Komisch, dass ihr Ricky einfiel.
Um achtzehn Uhr waren sie mit Michael Worms verabredet, einem Schulkameraden aus der Parallelklasse, altsprachlicher Zweig und Sohn eines alten Freundes von Helgas Vater. Marianne und Friedel Worms waren bei einem Autounfall kurz nach dem Krieg tödlich verunglückt und Michael wuchs bei seiner Großmutter väterlicherseits auf, auch sie gestandenes Lübecker Bürgertum, Getreidehandel. Sie bewohnten die dritte Etage eines alten Patrizierhauses in der Falkenstraße, das den Krieg einigermaßen heil überstanden hatte, wenn man von den abgeplatzten Putzstücken und den Einschusslöchern absah. Sie hatten einen herrlichen Blick auf die Lübecker Silhouette und sahen die Türme wachsen und das ehemalige Stadtbild langsam die Ruinen ersetzen und immer mehr Ähnlichkeit mit den Markenzeichen der Marmeladenfabrik in Bad Schwartau und der Marzipanfabrik in der Breiten Straße gewinnen.
Helga hatte zu Michael immer ein geschwisterliches Verhältnis gehabt. Sie kannten sich so gut, dass, als in der Pubertät das Interesse am anderen Geschlecht wuchs, sie keine Spannung füreinander aufbauen konnten und es auch gar nicht erst versuchten. Sie behielten eine enge freundschaftliche Verbindung, die sich erst lockerte, als Michael seine regelmäßigen Besuche bei den Kortens einstellte und seine eigenen Wege ging. Jetzt trafen sie sich ab und zu, ohne ihre beinahe verwandtschaftliche Beziehung durch übersteigerte Erwartungen und Ansprüche aneinander zu strapazieren, und es funktionierte einigermaßen unkompliziert.
Michael Worms war unsportlich. Er hasste jede Form der Fortbewegung aus eigener Kraft, alles an ihm war dicklich, aber nicht schwammig, seine großen Hände, seine Arme und Beine, seine massigen Oberschenkel, die stramm in seinen Bluejeans saßen – er besaß welche! –, aber er hatte überraschenderweise keinen Bauch. Sein rundes Gesicht war oft mit einem kleinen Schweißfilm überzogen. Die kleinen Perlen unter der kleinen, breiten Nase mit den geblähten Nüstern leckte er sich weg. Sein fleischiger Mund war ständig halbgeöffnet und legte eine Reihe großer, nicht ganz weißer Zähne frei. Seine Zunge war fortwährend in Bewegung und fuhr sich über die Lippen, sodass sie immer feucht waren. Manchmal bildeten sich in den Mundwinkeln, wenn er schnell und überhastet sprach, kleine Spuckebläschen.
Er war sehr beliebt, obwohl er als Eigenbrötler keine Freundschaften suchte. Er wusste alles, interessierte sich für alles, hatte eine schnelle Auffassungsgabe und verschenkte uneitel sein Wissen. Er half bei Hausaufgaben, gab unentgeltlich Nachhilfeunterricht vor Klassenarbeiten und es gab kein schulisches oder außerschulisches Thema, zu dem er nichts hätte beitragen können, wenn er wollte. Er war kein bisschen arrogant oder überheblich. Er war Jahrgangsbester, kein Streber, kein Speichellecker, es fiel ihm einfach zu. Außer im Sport, aber niemand lachte, wenn er seinen schweren Körper über das Pferd wuchtete oder allen anderen weit hinterher keuchte.
Und er konnte Klavier spielen.
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