Anderer Welten Kind (German Edition)
gleichmütig reagiert, als wenn er über den Dingen stünde und sie von außen betrachtete. So ein Schnösel konnte ihm nichts anhaben.
Mit der Verschärfung des Paragrafen Hundertfünfundsiebzig im Jahre 1935 war Wullenwever einer der Ersten, der in den polizeilichen Akten erfasst worden war. Das war nicht weiter schwierig, denn er war stadtbekannt. Da war er vierundvierzig Jahre alt und Geschäftsführer in einem Hamburger Kabarett an den Hütten in der Neustadt, einem der Trefflokale als Anlaufstelle für homosexuelle Bekanntschaften, deren Tanzabende und Travestie nicht nur gleichgeschlechtliche Paare anzogen. Er erzählte Ricky einmal, dass sie zu Showbeginn immer gemeinsam das Lila Lied mehr gegrölt als gesungen hätten, alle stehend eingehakt, und mit einem kleinen Tremolo stimmte er die erste Strophe an:
„Was will man nur?
Ist das Kultur
dass jeder Mensch verpönt ist,
der klug und gut,
jedoch mit Blut
von eig’ner Art durchströmt ist,
dass g’rade die
Kategorie
vor dem Gesetz verbannt ist,
die im Gefühl
bei Lust und Spiel
und in der Art verwandt ist?“
Ricky, der den Refrain kannte, hakte sich bei Wullenwever ein und gemeinsam schmetterten sie:
„Wir sind nun einmal anders als die Andern,
Die nur im Gleichschritt der Moral geliebt,
Neugierig erst durch tausend Wunder wandern,
Und für die’s doch nur das Banale gibt.
Wir aber wissen nicht, wie das Gefühl ist,
Denn wir sind alle and’rer Welten Kind,
Wir lieben nur die lila Nacht, die schwül ist,
Weil wir ja anders als die Andern sind.“
Und in der Erinnerung an diese Zeit, die schönste seines Lebens, wie sie Wullenwever nannte, blickte er wehmütig ins Leere, den Mund zu einem ganz feinen Lächeln verzogen, das das faltige Gesicht nicht ganz so verhärmte und ahnen ließ, wie attraktiv er einmal war.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön einige von den Transen waren“, sagte er einmal, „wie perfekt. Und die Travestie-Shows! Du hättest dich beölen können!“ „Oder“, fügte er wehmütig hinzu, „hemmungslos weinen vor Glück und Rührung.“
Verhaftungen und Nächte auf dem Polizeirevier folgten, eine ganz neue Situation für Hamburg, das sich noch in den zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre zu den liberalen und weltoffenen Städten zählte mit seinen zahlreichen Etablissements und Lokalen, mit dem eleganten Stadtcasino an der Stadthausbrücke, den Alsterarkaden oder dem Alsterpavillon am Jungfernstieg, auf dessen geschwungener Empore angebändelt wurde.
Wullenwever verpassten die Nazis das ganze Programm. Auf die erste Verhaftung und einer Nacht in Polizeigewahrsam folgten Anfang 1936 vierzehn Tage Gefängnis wegen eines Anbahnungsversuches in seinem Kabarett, der der Sittenpolizei von einem Spitzel zugetragen worden war. Mehrere kurze Gefängnisaufenthalte folgten, das Lokal verlor seine Gäste und musste im Sommer 1937 nach einigen Razzien geschlossen werden, und schließlich kam er in Schutzhaft ins Konzentrationslager Neuengamme. Er hatte es sich ernsthaft überlegt, ob er sich lieber kastrieren lassen sollte, das neue „Gesetz zu Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ließ diese Möglichkeit zu, um dem KZ zu entgehen, und einige seiner Freunde hatten sich dieser Prozedur unterworfen.
„Ohne Eier, kannst du dir das vorstellen?“, fragte er Ricky und so stand er von April 1938 anfangs mit dem A und später mit dem Rosa Winkel an der gestreiften Häftlingskleidung bei Hitze und Kälte bis Ende 1942 zum Appell auf dem Hofgeviert. Den Rest des Tages blieben er und die anderen Homosexuellen in Isolationshaft, zusammen mit den Bibelforschern und den Zeugen Jehovas. Ihre Baracken waren durch einen Zaun vom restlichen Lager getrennt, „zu ihrem eigenen Schutze“, wie ihnen gesagt wurde, aber in Wirklichkeit sollte die Seuche Homosexualität nicht in das Hauptlager überschwappen.
Als Wullenwever von den Morden der Blockführer der SS an den Gefangenen erzählte, von Freunden, die über Nacht verschwunden waren, von den Ängsten, die er ausgestanden hatte, der Nächste zu sein, konnte es Ricky zuerst gar nicht glauben, geschweige denn, sich die Willkür dieses Ausmaßes vorstellen. Aber Wullenwever erzähle so bruchstückhaft und zögerlich, seine Stimme zitterte und er musste mit den Tränen kämpfen, als wenn die Erinnerungen sich weigerten, in der Sprache Gestalt anzunehmen und es vorzögen, in dem inneren Teich begraben zu bleiben, in den sie Wullenwever nach seiner Entlassung geworfen
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