Anderer Welten Kind (German Edition)
hatte, als wehrten sie sich, an die Oberfläche gezerrt zu werden.
„Weißt du, was sie am liebsten machten? Nein? Ich erzähl’s dir. Ihre bevorzugte Methode war das Abspritzen mit kaltem, eiskaltem Wasser. Stundenlang, immer auf Herz und Nieren, bis der tot war. Auf den Totenscheinen haben sie dann geschrieben ‚Herz- oder Nierenversagen‘. Hat mir mal einer aus der Schreibstube erzählt, der die Scheine ausfüllen musste.“
Wullenwever war Schuhläufer. Elf Stunden am Tag auf einer Prüfstrecke aus Kies, Sand, Schlamm, Kopfsteinpflaster oder Geröll Stiefel, Schuhe, Socken, Fußlappen, Wärmefilze auf ihre Haltbarkeit testen. Dienst am Vaterland, bis seine Füße das Marschieren leid waren und ihren Geist aufgaben. Seitdem trippelte Wullenwever und das Gefühl in seinen Füßen wollte sich nicht wieder einstellen.
Danach stand er stramm. „Stehkommando“ nannten sie es. Bis er umfiel. Diese Zeit wurde minutiös gemessen und penibel-akkurat in lange Listen eingetragen. Was hält der Mensch aus? Das Knien im Kiesbett war am schmerzhaftesten, bis die Ohnmacht die Erlösung brachte und ihn zur Seite kippen ließ.
Wullenwever hatte überlebt und stand nach seiner Entlassung aus der Schutzhaft im November 1942 bis Kriegsende unter Polizeiaufsicht. Einmal wöchentlich musste er sich auf der Wache melden.
„Sonst wieder ab ins Konzentrationslager“, verabschiedeten sie ihn mit den immer gleichen Worten. Er wäre nicht auf die Idee gekommen, sich nicht zu melden.
Den Krieg überlebte er mit Hilfsarbeiten. Kohleschippen, Züge- und Schiffe-Beladen. Immer im Trippelschritt, ohne die Erde zu spüren. Es gehörte schon einige Kunstfertigkeit dazu, nicht zu stolpern und ein Gefühl für die Unebenheiten des Bodens und seiner unterschiedlichen Beläge zu entwickeln. Am Anfang fiel ihm das Treppensteigen besonders schwer und wenn die Stufe nicht der Norm entsprach, musste er vom automatischen Fußaufsetzen auf Sichtkontakt umschalten, um nicht ins Leere zu treten. Das Fallreep an den Schiffen bedeutete Höllenqualen für ihn. Das Lehrgeld bezahlte er mit einigen schmerzhaften Stürzen. Er gewöhnte sich an, sommers wie winters in schweren Schnürstiefeln mit dicken Gummisohlen zu gehen. Bei der Pediküre schnitt er sich manchmal ins Nagelbett und merkte erst am herausschießenden Blut, dass ein Stück Fleisch an der Schere klebte.
Das tiefe Durchatmen nach Kriegsende währte nicht lange. Es war, als wenn die Polizei in der jungen Adenauer-Republik keine anderen Aufgaben gehabt hätte, als die Klappen, Lokale und Treffpunkte zu durchkämmen und an einschlägigen Orten Razzien durchzuführen. Der Paragraf Hundertfünfundsiebzig behielt seine Gültigkeit und der Homosexuelle seine Angst. Zigtausende KZ-Häftlinge mussten ihre Reststrafe in der jungen Republik absitzen.
„In Fuhlsbüttel war es wie in Neuengamme“, sagte Wullenwever, „Isolation und Beschimpfung als Perverser und Hinterlader. Gut, gequält haben sie mich nicht mehr.“
Zwei Jahre und anschließend drei Jahre auf Bewährung, weil er einen Achtzehnjährigen verführt und ihn anschließend an einen Freund verkuppelt hatte. Dass der Junge ein Strichjunge war, spielte im Prozess keine Rolle. In der Urteilsverkündung sagte der Richter, dass nicht alle Gesetze, die im dritten Reich beschlossen und zur Anwendung gekommen waren, schon deshalb falsch gewesen wären. Widernatürliche Neigungen zu bestrafen, hätte mit dem politischen System nichts zu tun, das sei heute und damals eine richtige Rechtsauffassung. Nicht umsonst hätte die Bundesrepublik den Paragrafen Hundertfünfundsiebzig fast wortgleich übernommen. Auch die Alliierten hätten das so gesehen.
Danach war Wullenwever endgültig geheilt, zog von Hamburg weg nach Lübeck und mit einer kleinen Erbschaft eines verstorbenen Onkels eröffnete er den Antiquitätenladen in der Fischergrube.
Ricky lernte er kennen, als er den Malskat-Prozess besuchte und kurz danach auch Malskat in einer Galerie über den Weg lief. Malerei war seine Leidenschaft. Zum Selbstmalen hatte er kein Talent und so träumte er sich als Galeristen und Mäzen. Es blieben Träume. Aber er umgab sich mit Bildern, sammelte bunt durcheinander, hatte ein gutes Auge, entwickelte mit der Zeit eine gewisse Kennerschaft und wurde sich in der Beurteilung der Bilder immer sicherer, sodass er bald in Sammlerkreisen um Rat gefragt wurde. Er erwarb sich einen gewissen Ruf, den er ausnutzte, als Ricky mit seinen Bildern in dem
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