Anderer Welten Kind (German Edition)
weiterzugehen, noch radikaler zu werden, nicht stehen zu bleiben an der Mauer des Marktes, wollte sie aber selbst nicht um sich haben. Außerdem reichte es ihm, Ricky die Kunden zu vermitteln, eine zu große Nähe, dachte er, gefährde ihn. Deshalb war seine Kundschaft auch auf Hamburg beschränkt, alte Verbindungen, die hielten. In der Lübecker Homoszene kannte er niemanden und hielt sich ihr auch fern.
Ricky vermisste Christian, musste er sich eingestehen. Er war in den letzten Tagen oft ins Venezia gegangen, allein Christian hatte sich nicht blicken lassen. Er hätte ihn gern näher kennengelernt. Christians Unsicherheit und seine linkische Art lösten in ihm einen Schutzmechanismus aus und er fühlte sich stark und sicher in seiner Gegenwart, da er außer der Verlegenheit auch die Bewunderung für ihn spürte. Helgas Anwesenheit hatte er fast als bedrohlich empfunden und er war froh, sich so weit kontrolliert zu haben, in seiner plötzlichen Aufwallung von Eifersucht nicht zu garstig gewesen zu sein. Er hätte beinahe alles vermasselt.
Wullenwever schnitt das Thema nicht mehr an. Die Glocke von St. Jakobi dröhnte herüber und sie schlug sechs Uhr.
„Malskat kommt wohl nicht mehr“, sagte Wullenwever, „Er war sich nicht sicher, ob er es schaffen würde. Wollen wir etwas essen gehen? Ich habe nicht mehr viel im Haus. Unten gibt es ein ganz anständiges Labskaus, ist nicht teuer.“
Als sie die Fischergrube Richtung Untere Trave hinuntergingen, Wullenwever in seinem typischen Trippelschritt und Ricky einen halben Meter voraus, dachte Ricky darüber nach, wie er es anstellen könnte, im Deepenmoor zu malen, ohne dass Malskat etwas davon mitbekäme. Er müsste dort die Bilder für die Kunden verstecken. Aber wo? Das Ganze war doch sehr umständlich und passte ihm überhaupt nicht in den Kram. Seine Freundschaft zu Malskat war eher oberflächlich und von Malskat aus distanziert und er war ganz froh, als er das Atelier allein nutzen konnte. Irgendwie störte es ihn, dass Malskat jetzt wieder im Land war.
Das Labskaus war wirklich gut. Die Gaststätte, ein einfacher Schankraum mit groben Stühlen und Tischen und einer Küche hinter einer Schwingtür, die bei jedem Öffnen hin und her schwang und einen immer kleiner werdenden Ausschnitt der Küche und der Frau, die darin werkelte, freigab, war gut besetzt. Es waren meist Menschen aus dem Viertel, die entweder, weil sie allein waren, keine Lust hatten, selbst zu kochen, oder Paare, die sich etwas gönnten. Männer in grauen Arbeitshosen oder dunkelblauen dreiviertellangen Seemannsjacken tranken hier nach der Arbeit ihr Bier.
Das Labskaus, das in seiner Konsistenz an Erbrochenes erinnerte, wie seine Gegner meinten, roch nach Pökelfleisch, Zwiebeln und Matjes. Es gab nur diese beiden Seiten: Die Befürworter und die Kritiker. Liebe oder Hass, Genuss oder Ekel.
Die zwei Männer sogen genießerisch seinen Duft ein und schmatzten mit der Zunge. Hier wurde es noch ganz traditionell zubereitet, nicht mit Corned Beef vermischt, und die Rote Bete und die Stampfkartoffeln waren nicht matschig und verkocht. Und es gab zwei Spiegeleier und eine Gewürzgurke obendrauf.
Wullenwever erzählte, was er von Malskat erfahren hatte: Von seiner Arbeit in Schweden, von seinen Abschlüssen und dass er vielleicht mit seinem Jungen, der inzwischen achtzehn Jahre alt war, in das Haus im Deepenmoor einziehen und dort malen wollte. Sein Junge hätte sich auch der Malerei verschrieben und er hätte Talent. Ricky, zunehmend genervt, nahm sich zusammen und hörte nur halb zu, wobei er von Zeit zu Zeit nickte.
In England und den Vereinigten Staaten hätten Galerien Interesse an seinen Bildern gezeigt. Deshalb wollten er und sein Junge die Zeit nutzen und das Atelier im Deepenmoor ausbauen, um dort intensiv zu malen und die Ausstellungen vorzubereiten. Sie wollten versuchen, dort zu leben.
„Und“, fuhr Wullenwever fort, „er hat mir aufgetragen, dir zu bestellen, dass du deine Sachen abholen sollst. Er braucht den Platz.“
„Was erzählst du da?“ Ricky war plötzlich hellwach. „Wiederhol das noch einmal!“
„Du sollst aus dem Haus“, sagte Wullenwever.
Aus der Traum. Es hätte nicht schlimmer kommen können. In Ricky stieg eine Wut auf, wäre doch Malskat im Knast geblieben, der machte jetzt alles kaputt. Laut sagte er und er konnte seine Bissigkeit kaum unterdrücken: „Haben die denn Interesse an den Fälschungen?“
„Lass den Scheiß“, fuhr ihn Wullenwever an.
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