Anderer Welten Kind (German Edition)
geblieben ist und Onkel Franz in Berlin bei der Regierung arbeitet. Aber Genaues weiß ich nicht. Und nun dieser Brief.“
Renate konnte sich nicht erinnern, wie Tante Hermine aussah, und holte deswegen das große, braune Fotoalbum aus dem Sideboard hervor. Sie legte es Ingeborg auf den Schoß.
Christians Herz begann zu klopfen und er spürte, wie plötzlich aus einer gesichtslosen Schwärmerei ein konkretes Gesicht, eine Person aus Fleisch und Blut werden konnte. Er beugte sich vor und konnte es kaum erwarten und hätte am liebsten Ingeborg das Album aus der Hand gerissen und gefragt: Ist es die, ist es die? Er hatte ja nur das eine Bild im Kopf.
Ingeborg, die noch zögerte, der Blick ihres Mannes hielt sie im eisernen Griff, gab sich einen Ruck und schlug langsam die durch ein dünnes Pergamentpapier mit einem Spinnennetzmuster voneinander getrennten Seiten auf, blätterte langsam weiter und verweilte kurz an zwei, drei Fotos, die Erinnerungen in ihr wachriefen, ohne sie zu kommentieren.
„Hier, das sind Tante Hermine und Mathilde, wartet mal, das muss so um 1930 gewesen sein.“
Es war das Foto mit der hübschen jungen Frau mit der schwarzen Pagenfrisur, deren helle Stirn kurz über den Augenbrauen wie eine scharfe gelackte Linie konturiert wurde.
Sie lächelte ganz freundlich in die Kamera; es war kein Grinsen, sondern eher amüsiert-distanziert. Christian hätte es lieber eine Spur wehmütiger gehabt. Jetzt fühlte er sich am Ziel und er rutschte wieder in seinen Sessel. Er hatte Zeit, er konnte sich das Foto betrachten, wann immer er wollte. Er musste es jetzt nicht mit den anderen teilen. Er musste das Tagebuch wieder an seine alte Stelle schaffen, war sein nächster Gedanke.
Günter und Renate zogen sich auf die Couch zurück und schauten sich das Fotoalbum an, wobei Renate leise die einzelnen Familienmitglieder oder die Situationen auf den Bildern erklärte, soweit sie sich erinnerte oder sich aus früheren Betrachtungen gemerkt hatte.
Fritz Lorenz konzentrierte sich wieder auf seine Zeitung und Ingeborg vertiefte sich in ein Buch. Aber die gelöste Stimmung war vorbei und Fritz und Ingeborg waren in ihre Schneckenhäuser gekrochen, ein nur kurzer Aufschub vor dem, was beide erwarteten, Fritz voller Wut auf Ingeborg und Ingeborg voller Angst.
Kaum war Günter gegangen und die Kinder in ihren Zimmern, fiel Fritz mit einer Tirade von Vorwürfen über Ingeborg her, die nichts anderes waren als ein hinweg von ihm kanalisierter Selbsthass, und, obwohl der Streit fast schreiend-flüsternd ausgetragen wurde, erfüllten die unterdrückten Stimmen und die einzelnen außer Kontrolle geratenen Vokale das Schlafzimmer und ergossen sich in die Ofenöffnung, an deren Gittern Renate und Christian ihre Ohren gepresst hatten und mit ihrer Mutter litten. Dann folgte ein großer Krach, so als wenn ein Stuhl umgeworfen würde, dann war es still.
Christian lag noch lange wach auf seinem Bett. Er dachte an Tante Hermine und ob er sie vielleicht eines Tages doch noch kennenlernen würde. Ihm wurde traurig zumute. Der Krach zwischen seinen Eltern tönte in ihm nach und mischte sich mit seinem Unvermögen und seiner Ohnmacht, irgendeinen Einfluss auf sie zu haben. Er fühlte sich allein und selbst Helga konnte daran nichts ändern. Wann hatten sie das letzte Mal zusammengesessen und er hatte sich in der Mitte seiner Familie wohlgefühlt? Das war lange her. Als er schon den Gedanken beiseiteschob, resigniert im Selbstmitleid, fielen ihm die Abende vor dem Radio ein, als die Pamir gesunken war.
Es war einer dieser Wochenendabende Ende September, Samstag musste es gewesen sein, denn sie saßen den nächsten Tag und Abend wieder zusammen, unfähig, sich vom Radio wegzuwenden. Ihm kam es jetzt so vor, als wenn sie ganz eng zusammengerückt gewesen wären, aber das konnte natürlich nicht so gewesen sein, denn körperliche Nähe war nicht gerade sehr ausgeprägt in der Familie Lorenz, dennoch verdichtete sich die Erinnerung zu einer solchen Empfindung. Doch, am Samstag, als es ganz schlimm wurde, als die Nachrichten stündlich und in Sondermeldungen zwischendurch von vergeblichen Suchaktionen berichteten, vom Verstummen des Funkkontakts nach dem SOS und der Meldung über die fünfunddreißig Grad Schräglage des Schiffes, hatte er sich an Renate angelehnt und sie hatte ihren Arm um ihn gelegt und seine Schulter gestreichelt.
Begierig sogen sie jede Nachricht über den Hurrikan ein, mit seinen vierzehn Meter hohen Wellen und
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