Anderer Welten Kind (German Edition)
dem hundertdreißig Stundenkilometer schnellen Getöse, über die Rettungsboote, die kieloben, halb zerstört, im kochenden Wasser trieben, über die zusammengebundenen Pakete der Schwimmwesten, über die Haie, die in der Gegend gesichtet worden waren, und über den amerikanischen Dampfer President Taylor, der unverrichteter Dinge wieder abgedreht war und die Suche aufgegeben hatte, und der ganzen Welt über Funk vom Sturm, der schlechten Sicht, den Wellengetümen berichtet hatte, nur von der Pamir gab es nichts mehr. Untergegangen mit Mann und Maus.
Christian erinnerte sich noch an die genaue Position, als die Gerstenladung des Schiffes ins Rutschen geriet und das Schiff so schnell in Schräglage kippte, dass keine Boote mehr geordnet zu Wasser gelassen werden konnten. Keine Schlauchboote, keine mit Sendern und Lebensmitteln ausgerüsteten Rettungsboote: 35 Grad 57 Minuten nördliche Breite, 40 Grad 20 Minuten westliche Länge. Das erfuhren sie aber viel später, erst als die sechs Überlebenden gerettet waren. Sechs von neunzig, vierundfünfzig davon in Ausbildung, zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt. Da hatte er schon die genaue Position des Unglücks im Atlas gefunden, mitten im Atlantik südwestlich unterhalb der Azoren. Das Schlimmste waren die Meldungen über die Suche, die vergebliche Suche, an der sich schließlich über ein Dutzend Schiffe beteiligte, und die Hoffnung, wenn der Radiosprecher mit seiner gleichförmigen Nachrichtenstimme vorlas, dass ein Rettungsring, eine Bohle oder ein halbzerrissenes Rettungsboot gefunden worden waren. Nur von den Menschen keine Spur.
Die Worte vom „Nassen Tod“ und „Nassen Grab“ fielen oft in diesen zwei Tagen. Ingeborg stellte sich vor, dass es auch Christian hätte sein können, und sie trauerte um die Jungen, als wenn sie ihren eigenen Sohn beweinte. Dann redeten sie, weil sie sich eingerichtet hatten in ihrer Anteilnahme, weil sie festhalten wollten an dem schönen, empathischen Gefühl, an fremdem Leid wie selbstverständlich zu erschauern.
Denn obwohl sie niemanden von der Pamir kannten, gingen sie ein in den Schmerz der Stadt Lübeck. Es war ihr Schiff, ihr stolzer Viermaster, und es war auch ihr Verlust. Sie teilten die Trauer und verloren ihre Fremdheit, wurden Teil der Lübecker Bürgerschaft. Die Nähe, die sie als Familie zueinander zelebrierten, verschmolz mit der Nähe zu den anderen Lübeckern, die wie sie fassungslos und voller Mitgefühl an den Radios klebten, und zu denen, deren Kinder oder Männer nicht mehr wiederkamen. Als dann später eines der drei gefundenen Rettungsboote in der Jakobikirche zur Mahnung und zur Erinnerung aufgestellt wurde, waren sie dabei, und jedes Mal, wenn sie die Kirche besuchen sollten, sahen sie in dem Rettungsboot ein Symbol ihrer neuen Heimat und ihrer Verbundenheit. In der Passat, dem Schwesterschiff, das in Travemünde auf Reede lag, erkannten sie die Pamir wieder und sie konnten nicht begreifen, wie ein so riesiger Koloss einfach kieloben im Meer verschwinden konnte.
Christian spürte noch einmal diesem Gefühl der Geborgenheit im Kreis seiner Familie nach, wie sie viel zu heißen Tee geschlürft hatten, wie sich über ihr Mitleiden hinaus das wohlige Empfinden eingeschlichen hatte, zusammen zu sein, zusammenzugehören, aufgehoben zu sein in einem Kokon der Fürsorge und des Miteinanders über alle Streitigkeiten und Auseinandersetzungen hinweg. Mit dem Gefühl, das alles verloren zu haben, schlief er schließlich ein. Sein letzter Gedanke galt Ricky von Dülmen, den er am nächsten Tag unbedingt wiedersehen musste.
10. Kapitel
Wieso behielt Fritz Lorenz sein morgendliches Weckritual bei, das mit dem Zuschlagen der Badezimmertür und den sieben Schritten bis zu Christians und Renates Türen begann, die im rechten Winkel zueinander den Flur abschlossen, und vor Renates Tür mit einem kleinen Trommelwirbel mit Zeige- und Mittelfinger endete? Dazwischen lag die kurz gepfiffene Melodie, die mit einem hohen, lauten Ton ausklang, und ein überzogen freundliches „Aufstehen, Kinderchen!“, das die Kinderchen schon lange dämmerwach erwarteten oder mit einem Kissen über dem Kopf zu ignorieren trachteten und mit einem unwilligen Brummen registrierten.
Es konnte kommen, was wollte, mit einer Laune tief im Keller aufgewacht, die Zankereien durch die Nacht geschleppt, den aufsteigenden Tag mit pessimistischen Anflügen begleitet: Fritz Lorenz’ Stimme behielt ihren künstlichen, einschmeichelnden Klang, auch
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