Anderer Welten Kind (German Edition)
die Informationen aus dem Tagebuch, die ein Bild der jungen Tante in ihrer Liebessehnsucht zeichnete, mit denen aus dem Brief einer alten Frau in Einklang zu bringen. Er scheiterte kläglich und spaltete die heutige Tante Hermine von der jungen ab, von der Tante, die er sich als seine Vertraute vorstellte und zu der er eine Seelenverwandtschaft pflegte. Die galt es zu verteidigen in der inneren Rangordnung.
Gleichwohl gelang es ihm nicht, sich vollständig von dem Brief und seinem Inhalt zu trennen, zu sehr hatte er seine Aufmerksamkeit erregt, da war etwas, was er nicht verstand und was er sofort mit dem Krach zwischen seinen Eltern in Verbindung brachte, dessen Zeuge er vor längerer Zeit an der Ofenklappe gewesen war und von dem ihm nur noch Bruchstücke in Erinnerung geblieben waren. Damals ging es auch um Tante Hermine und Onkel Franz. Was meinte sie mit „Alles gut gegangen“ und sie wüsste nicht, wie die Geschichte ausgegangen sei?
Christian packte die Gelegenheit beim Schopfe und fragte, was denn gut gegangen sei, damals.
Fritz Lorenz ließ die Zeitung sinken, seinen Blick scharf auf Ingeborg gerichtet, mehr ein Zischen denn ein Sprechen, was er herauspresste: „Hast doch gehört, alles gut gegangen. Da gibt es nichts zu fragen.“ Seine Augen blieben an Ingeborg haften, Schlitze jetzt. Dazu das Gesicht, hart und verbissen, der Mund – ein Strich.
Er knüllte die Ecke der Zeitung, strich sie dann wieder glatt. Schwieg.
Bevor Christian noch einmal anheben konnte, sagte Ingeborg schnell: „Du weißt doch, mein Engel, die Flucht und dass wir es alle geschafft haben, heil und gesund hier anzukommen.“
Mit einer Geste, die den Raum umfasste, fuhr sie fort: „Und Tante Hermine hat bestimmt gehört, wie gut es uns hier geht. Die Arme muss dort ja in Unfreiheit leben.“
Sie machte eine Bewegung mit dem Kopf, vage Richtung vermuteter Osten.
„Ist sie denn nicht freiwillig in der Ostzone geblieben?“ Jetzt war Renates Neugierde geweckt.
„Das weiß ich nicht. Es war damals alles so heillos durcheinander, wir saßen zusammen in einem Barackenlager in der Nähe von Frankfurt.“
Nach einem kleinen Augenblick setzte sie wieder an.
„Frankfurt an der Oder, meine ich. Tante Hermine und die Kremers und wir. Erinnerst du dich nicht, Renate? Es war dieser entsetzlich kalte Januar.“
Renate machte ein angestrengtes Gesicht, als sie nachdachte. Sie schüttelte den Kopf.
„War das da, wo wir auf Nachrichten von Papa und Onkel Herbert gewartet hatten?“ Die Kinder nannten die Kremers schon immer Onkel und Tante, genauso wie Stefan umgekehrt verfuhr.
Ingeborg nickte und sagte dann: „Wir mussten dann los und Tante Hermine ist geblieben, weil etwas wegen der Kinder und Onkel Franz zu regeln war. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.“ Den Kopf schräg haltend, schien sie nachzudenken.
Musste dieser verfluchte Brief denn kommen, dachte Fritz Lorenz, hat man wohl niemals Ruhe? Diese Geschichte schwärte in ihm wie ein Eitergeschwür und er wusste nie, wann es ausbrach. Franz Kuhnert, der Bonze, der Kommunist. Das verfolgte ihn. Diese Schmach! Ausgerechnet Franz, den er aus tiefstem Herzen verachtete, musste ihn vor den stalinistischen Lagern retten! Er sah ihn vor sich, wie er grinste und zum Abschied sagte: „Dann komm mal. Schwein gehabt, dass du auf mich gestoßen bist.“
Ende April 1945, Magdeburg, die Elbe, die Russen im Nacken und die Amerikaner vor sich. Und die Tätowierung der Blutgruppe A in den inneren Oberarm unterhalb der Achselhöhle wie gestanzt. Wie viele von ihnen hatten den Arm freilegen und heben müssen und dann ab nach Sibirien oder gleich an die Wand gestellt, wenn sie an die falschen Leute geraten waren! Er hatte Glück gehabt, sich bis Magdeburg durchgeschlagen, nachdem er sich die Zeichen von der Uniform gerissen hatte und den Totenkopf von der Mütze. Den Gürtel mit dem Verschluss, in dem „Unsere Ehre heißt Treue“ eingearbeitet war, hatte er weggeschmissen, ebenso den Dolch mit dem Hakenkreuz. Die Hose hielt jetzt ein mit einem einfachen Achtknoten geknüpftes Tau. Zuerst zusammen mit den kopflos fliehenden Truppenteilen durch Polen, mal in einem Viehtransport, die Geschichte lässt grüßen, mal auf den zugigen Flächen der Lkws, als er schließlich in Riesa in Mitteldeutschland seinen Weg allein oder zu zweit fortsetzte. Nachts marschierte er, tagsüber versteckte er sich auf Bauernhöfen oder in Heuschobern. Manchmal ein Transport auf einem
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