Anderer Welten Kind (German Edition)
wenn danach die erste Begegnung am Küchentisch frostig und sprachlos verlaufen sollte. Wieso eigentlich? Die Kinder waren fast erwachsen und Christian hatte ihn schon öfter gebeten, das „Getue“ abzustellen, wie er es Renate gegenüber nannte. Fritz hielt sich daran fest wie an einem Geländer, das ihn mit sicherem Halt in den Tag geleitete, selbstverständlich und in seiner Gewohnheit nicht mehr bewusst steuerbar.
Es wäre ihm so gewesen, als würde ihm eine Lücke gerissen, nur so war ihm der Tagesbeginn vollständig. Er wollte die von ihm erfundene und geformte Rolle nicht aufgeben, er hätte seine Vorstellung von der Familie aufgegeben. Die Beliebigkeit, die mit dem Weglassen entstünde, hätte er nicht auszuhalten vermocht. Christian hielt den Weckruf für eine infame Quälerei und pure Demonstration väterlicher Gewalt, in ihrer Heuchelei und Ironie nicht zu überbieten, während Renate sich überhaupt keine Gedanken machte, ihr war das Ritual so selbstverständlich wie ihre abwehrende Reaktion darauf im morgendlichen Bett, wie das anschließende Aufstehen und das Den-Schlaf-noch-in-den-Knochen-ins-Bad-Trotten.
Christian sprang aus dem Bett; er wollte gegen seine sonstige Art vor Renate im Bad sein. Er hatte schon vor dem Schließen der Badezimmertür und den Schritten auf dem Flur und dem kurzen, kratzigen Stakkato an der Tür seine Decke weggeschlagen und saß auf der Bettkante, den Kopf in den Händen, den Oberkörper gekrümmt. Bevor er aufstand, atmete er tief durch.
Heute nach der Schule gehe ich ins Venezia, dachte er, vielleicht hab ich ja Glück.
Das Rudertraining wollte er ausfallen lassen, ein Unwohlsein vortäuschend. Bei den letzten Trainings war er nach dem Zusammenstoß mit Henze auf der Lauer, obwohl sein Trainer sich ihm gegenüber wie immer verhielt. Er hatte ihn ganz offensichtlich nicht auf dem Kieker.
Das Frühstück verlief schweigend. Ingeborg im hellblauen Morgenmantel aus billigem, dünnen Frottee, die den Tee zubereitet und den Tisch gedeckt hatte, hielt eine kühle Distanz zu ihrem Mann, sie würdigte ihn fast keines Blickes. Fritz Lorenz blieb einsilbig. Der Krach gestern Abend hatte seine Spuren hinterlassen und sie waren beide ganz offensichtlich noch nicht fertig damit. In dem kleinen Raum hielten sie soweit es eben ging Abstand. Die Kinder kannten diese Stimmung und zogen sich zurück. Ingeborg verrichtete wie gewohnt ihre Handgriffe, das Pausenbrot für ihren Mann schmieren und in die Brotdose packen und auf den Küchentisch legen, eine zweite Kanne Tee aufbrühen, während die anderen ihre zwei bis drei Schnitten frühstückten. Christian belegte seine Brote mit Wurst und Käse selbst und Renate aß morgens nur Marmelade oder Rübensirup, den sie langsam von einem kleinen Löffel auf das Brot tropfen oder dünn fließen ließ und dabei versuchte, Figuren oder Buchstaben zu bilden. Fritz aß am liebsten Margarinebrot, dick bestreut mit Zucker, das beim Beißen und Kauen in den Zähnen knirschte. Ingeborg würde als Letzte frühstücken, eine dünne Schnitte mit Marmelade und ein Tässchen Tee, nie mehr, und ins Bad gehen, wenn die anderen längst das Haus verlassen hätten.
Heute hatte sie sich vorgenommen, eine Halbtagsstelle zu suchen. Ihrem Mann gegenüber verlor sie kein Wort darüber, das war alles noch viel zu vage. Sie wartete einen günstigeren Moment ab, um ihm seine Zustimmung abzuringen. Sie wollte in einem Schreibwarengeschäft nachfragen, von dem sie wusste, dass der Vormittag zu besetzen war.
Als Christian sich von ihr verabschiedete, sah sie ihn mit einem merkwürdigen Blick an, als suchte sie etwas in seinem Gesicht.
„Bist du heute Nachmittag zu Hause?“, fragte sie. „Ich muss mit dir sprechen.“
Christan antwortete, dass er zum Training müsse, das wisse sie doch.
„Und wo sind deine Sachen? Wo hast du denn deine Gedanken!“, sagte sie. „Warte, ich hole sie.“
Bevor sich seine Mutter umdrehen konnte, stürzte er an ihr vorbei in sein Zimmer. Das fehlte noch, dass sie zwischen den Sportsachen das Tagebuch fände! Ingeborg schaute ihm erstaunt nach.
Er musste es heute noch an seinen Platz zurücklegen. Warum hatte er bloß so lange gewartet?
„Komm nicht zu spät, es ist wichtig.“
Ihr Ton war ein wenig ungehalten und schon halb auf dem Treppenabsatz fragte Christian, was denn so dringend sei, aber seine Vorwärtsbewegung signalisierte ihr, dass er sich jetzt nicht darum kümmern wollte, und sie hatte sich schon umgedreht und
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