Anderer Welten Kind (German Edition)
schloss die Wohnungstür lauter als sonst.
Es war noch dunkel und der bläuliche Himmel im Osten begann sich langsam rosa zu färben. Im schwachen Gegenlicht zeichneten sich die Bäume und Dächer der Siedlung scharf ab. Ein Stern nach dem anderen verblasste so abrupt, als wenn er ausgeknipst würde. Die Morgendämmerung setzte sanft ein. Ein eisiger Wind fegte das letzte Laub vor sich her und durchdrang Christians Anorak und den dicken Pullover. Die Hände in den doppelt gestrickten Fäustlingen blieben warm.
Heute genoss er die Fahrradfahrt zur Schule. Auf der Wakenitz hatte sich ein dünner Eisfilm gebildet, der die Kräuselbewegungen des schwarzen Wassers dämpfte und wie eine glitzernde, faltige Haut das Licht der Uferlampen zersplittert zurückwarf. Enten, Blesshühner und Schwäne hatte sich auf einer kleinen, eisfreien Fläche eingerichtet und lagen lärmend und Flügel schlagend im Wettstreit, wer sich mit dem lautesten Begrüßungslied für den neuen Tag empfahl.
Christian freute sich auf Helga und eigenartigerweise auch auf Stefan, den er schon seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr richtig gesprochen hatte, Keim eines ständig wachsenden schlechten Gewissens. Er wollte sich mit ihm verabreden, vielleicht ließ sich die Distanz zwischen ihnen wieder verringern. Heute aber musste er ihn und Helga loswerden. Er wollte die Dinge getrennt halten und er redete sich ein, dass sie nichts miteinander zu tun hätten. An eine Wiederholung der Szene mit Ricky und Helga im Venezia dachte er mit Unwohlsein, sie wollte er unter allen Umständen vermeiden, zumal Helga das Thema weiterhin unberührt ließ. Er nahm es als ihre Gleichgültigkeit. Stefan mit Ricky zusammenzubringen, schien ihm noch absurder.
Stefan und Helga waren enttäuscht. Stefan, weil auch er das Bedürfnis verspürte, mit Christian ein ernsthaftes Wort zu reden. Er hatte inzwischen von Christians Absage, zum nächsten Treffen der HIAG zu fahren, gehört und war sauer und sein Vater verstimmt. Helga sah es als selbstverständlich an, dass sie ihre Freizeit gemeinsam verbrachten, und konnte gerade noch solche Absenzen wie das Training akzeptieren.
„Ich hole dich vom Club ab, dann machen wir noch einen Weihnachtsbummel. Ich muss noch ein Geschenk für meine Mutter suchen.“
Christian wand sich heraus, er hätte Wolle versprochen, ihm bei den Matheaufgaben zu helfen. Helga, die die Absage fadenscheinig fand, fügte sich schmollend.
„Morgen Nachmittag, versprochen.“
Ein herzhafter Kuss, ein treuer Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Geschafft. Und auch hier das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.
Christian war sich vollkommen sicher, Richard von Dülmen im Venezia zu treffen. Er hatte sich so intensiv die Begegnung vorgestellt, dass er seine Gedanken buchstäblich durch die Luft schwirren sah, und natürlich würden sie ihr Ziel finden. Er wollte unbedingt Ricky nach Malskat fragen, ihn vielleicht sogar bitten, ihn auf die Insel mitzunehmen, wenn Malskat dort malte. Außerdem wollte er über Wullenwever wissen, warum der sich nachts vor dem Kino rumgetrieben hatte. Rumtreiben würde er es Ricky gegenüber nicht nennen, eher, er habe ihn zufällig dort getroffen, aber so, wie er im Schatten des Baumes gestanden hatte und fast ein wenig verlegen war, empfand es Christian so. Nach den Film Jud Süß hatte er nicht weiter gefragt, zu Hause versuchte er es erst gar nicht, vielleicht konnten Herr und Frau Korten ihm einiges erzählen. Es hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben. Ricky wüsste bestimmt Bescheid.
Zum Glück hatte Helga beschlossen, den Nachmittag bei Michael zu verbringen, es gäbe da etwas, was sie mit ihm besprechen wolle. Was, sagte sie nicht. Christian fragte nicht nach, er war erleichtert, dass er nicht befürchten musste, ihr in der Stadt über den Weg zu laufen.
Die Doppelstunde Deutsch bei Wenzel zog sich hin und seine Gedanken schweiften ab. Die trockene Luft und der noch trockenere Vortrag Wenzels über das bürgerliche Trauerspiel brannten in seinen Augen und er musste sie weit aufreißen, um zu verhindern, dass sie einfach zuklappten und ihn in seine Wachträume entführten. Er begann, mit einem Bleistift die Vertiefungen auf dem alten, dunkelbraunen Schultisch nachzuzeichnen. Wie viele Schülergenerationen hatten hier ihre Verzweiflung verewigt, um der tödlichen Langeweile zu entkommen und nicht wegzudämmern. Abstrakte, mäandernde Linien, die ins Nichts führten. Strichmännchen. Sprüche. Kreuze. Englische und
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