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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ehmer
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Günter fragte, ob er auch einen wolle, und die Mariacronflasche aus der Bar in der Konsole fischte, schaute Ingeborg nicht missbilligend. Günter lehnte dankend ab, nachdem Renate ihn in die Seite geknufft und unmerklich den Kopf geschüttelt hatte.
    „Tante Hermine hat geschrieben“, sagte Ingeborg, „aus der Ostzone.“
    Christian war sofort hellwach. Das Tagebuch, dachte er. Er blickte so unbeteiligt wie möglich, während Renate Ingeborg anschaute.
    „Und, was steht drin?“, fragte sie.
    Fritz Lorenz reagierte zuerst gar nicht und tat so, als wenn er nichts gehört hätte. Er blieb über die Lübecker Nachrichten gebeugt, versunken in einen Artikel, der ihm die ganze Konzentration abzufordern schien. Aber so, wie er die Zeitung hielt und den Kopf geneigt, schien er doch sehr genau Ingeborg verstanden zu haben, mehr noch, sie bewusst zu ignorieren.
    Ingeborg nestelte den Brief aus der Tasche ihrer Schürze, die sie während des Abendbrots nicht abgelegt hatte, was äußerst selten vorkam. Sie las, nachdem sie einen fragenden Blick auf ihren Mann geworfen hatte, der weiterhin an seiner Zeitung festgeklebt schien. An seinem Atem bemerkte sie seine Anspannung, über die sie sich diesmal hinwegsetzte.
    Liebe Ingeborg,
    nun habe ich schon so lange nichts mehr von dir gehört. Die Jahre vergehen und wir haben uns ja aus den Augen verloren. Gertrud hat mir deine Adresse geschrieben. Mit ihr schreibe ich mich manchmal. Deshalb weiß ich auch ein bisschen über dich und deine Familie Bescheid. Dass du verheiratet bist und zwei Kinder hast, einen Jungen und eine Tochter. Wie ich. Ich bin inzwischen Großmama. Mathilde hat einen sechsjährigen Sohn. Sie lebt mit ihm in Leipzig. Verheiratet ist sie nicht. Karl hat nie geheiratet. Ich habe kaum Kontakt zu den beiden. Du erinnerst dich vielleicht, dass Franz und ich schon vor dem Krieg geschieden waren. Er hatte die Kinder zugesprochen bekommen. Sie aber ins Heim gegeben. Schwamm drüber. Er lebt in Berlin. Von ihm lese ich nur in der Zeitung. Ich lebe sehr bescheiden von meiner Arbeit im Kombinatsladen. Aber ich bin zufrieden. Man muss sich mit dem begnügen, was einem zusteht.
    Wie würde ich mich freuen, wenn ich etwas von dir hören würde! In der letzten Zeit denke ich viel nach über die Familie. Wie alles so gekommen ist. Und wie traurig es doch ist, so wenig voneinander zu hören. Ich bin ja nun schon bald sechzig Jahre alt. Da fängt man an zurückzuschauen. Gertrud hatte mir auch geschrieben, dass damals alles gut gegangen ist mit Fritz. Ich hatte gar nicht gewusst, wie er weggekommen ist. Franz wollte darüber nicht mit mir reden und ihr wart ja plötzlich weg. Da bin ich aber froh.
    So, liebe Ingeborg, grüße ganz herzlich deine Familie Fritz, Renate und Christian von mir. Ich würde mich schrecklich freuen, wenn du mir ein Lebenszeichen schicken würdest. Ach, beinahe hätte ich es vergessen: Ein schönes Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr.
    Deine Tante Hermine
    Schon während des Lesens merkte Ingeborg, dass es ein Fehler war, und sie dachte angestrengt darüber nach, wie sie den nun anstehenden Fragen der Kinder ausweichen konnte. Sie hatte, als sie den Brief heute Nachmittag das erste Mal gelesen hatte, den Hinweis auf Franz vollkommen überlesen, und jetzt geriet sie in Panik. Der Brief war eine Ohrfeige für Fritz, so musste er es wenigstens verstehen. Hätte sie doch bloß allein mit ihm geredet. Sie bekam plötzlich Angst vor der zu erwartenden heftigen Reaktion ihres Mannes. Doch die blieb vor Günter und den Kindern aus. Fritz starrte sie nur an und vertiefte sich wieder in seine Zeitung, was die Sache nur noch schlimmer für Ingeborg machte. Hier staute sich etwas auf, wofür sie später schwer würde büßen müssen. In ihrer Not sagte sie, dass die Tante in Greifswald wohne und es doch eine schöne Idee sei, ihr ein Weihnachtspäckchen zu schicken, sie lebe ja wohl in bescheidenen Verhältnissen. Ob denn Renate und Christian Lust hätten, mit ihr zusammen das Päckchen zu packen und einen kleinen Weihnachtsgruß hineinzulegen?
    Renate stimmte sofort zu, sie spürte instinktiv die Befangenheit ihrer Mutter, deren Grund sie noch nicht kannte, und wollte ihr aus der Patsche helfen. Das demonstrativ zur Schau gestelltes Desinteresse ihres Vaters war ihr nicht entgangen. Christian konnte sich überhaupt nicht damit beschäftigen, deshalb sagte er ganz schnell, ja, natürlich, und tauchte sofort wieder in seinen inneren Film, der versuchte,

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