Andorra
sage?
ANDRI Nein.
PATER Also glaubst du, ich lüge?
ANDRI Hochwürden, das fühlt man.
PATER Wasfühlt man?
ANDRI Ob man Jud ist oder nicht.
Der Pater erhebt sich und nähert sich Andri.
Rühren Sie mich nicht an. Eure Hände! Ich will das nicht mehr.
PATER Hörst du nicht, was ich dir sage?
Andri schweigt.
Du bist sein Sohn.
Andri lacht.
Andri, das ist die Wahrheit.
ANDRI Wie viele Wahrheiten habt ihr?
Andri nimmt sich eine Zigarette, die er dann vergisst.
Das könnt ihr nicht machen mit mir...
PATER Warum glaubst du uns nicht?
ANDRI Euch habe ich ausgeglaubt.
PATER Ich sage und schwöre beim Heil meiner Seele, Andri: Du bist sein Sohn, unser Sohn, und von Jud kann nicht die Rede sein.
ANDRI 's war aber viel die Red davon...
Großer Lärm in der Gasse.
PATER Was ist denn los?
Stille
ANDRI Seit ich höre, hat man mir gesagt, ich sei anders und ich habe geachtet drauf, ob es so ist, wie sie sagen. Und es ist so, Hochwürden: Ich bin anders Man hat mir gesagt, wie meinesgleichen sich bewege, nämlich so und so, und ich bin vor den Spiegel getreten fast jeden Abend. Sie haben recht: Ich bewege mich so und so. Ich kann nicht anders. Und ich habe geachtet auch darauf, ob's wahr ist, dass ich alleweil denke ans Geld, wenn die Andorraner mich beobachten und denken, jetzt denke ich ans Geld, und sie haben abermals recht: Ich denke alleweil ans Geld. Es ist so. Und ich habe kein Gemüt, ich hab's versucht, aber vergeblich: Ich habe kein Gemüt, sondern Angst. Und man hat mir gesagt, meinesgleichen ist feig. Auch darauf habe ich geachtet. Viele sind feig, aber ich weiß es, wenn ich feig bin. Ich wollte es
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Max Frisch - Andorra
nicht wahrhaben, was sie mir sagten, aber es ist so. Sie haben mich mit Stiefeln getreten, und es ist so, wie sie sagen: Ich fühle nicht wie sie. Und ich habe keine Heimat. Hochwürden haben gesagt, man muss das annehmen, und ich hab's angenommen. Jetzt ist es an Euch, Hochwürden, Euren Jud anzunehmen.
PATER Andri –
ANDRI Jetzt, Hochwürden, spreche ich.
PATER - du möchtest ein Jud sein?
ANDRI Ich bin's. Lang habe ich nicht gewusst, was das ist. Jetzt weiß ich's.
Pater setzt sich hilflos.
Ich möchte nicht Vater noch Mutter haben, damit ihr Tod nicht über mich komme mit Schmerz und Verzweiflung und mein Tod nicht über sie. Und keine Schwester und keine Braut: Bald wird alles zerrissen, da hilft kein Schwur und nicht unsre Treue. Ich möchte, dass es bald geschehe. Ich bin alt.
Meine Zuversicht ist ausgefallen, eine um die andere, wie Zähne. Ich habe gejauchzt, die Sonne schien grün in den Bäumen, ich habe meinen Namen in die Lüfte geworfen wie eine Mütze, die niemand gehört wenn nicht mir, und herunter fällt ein Stein, der mich tötet. Ich bin im Unrecht gewesen, anders als sie dachten, allezeit. Ich wollte recht haben und frohlocken. Die meine Feinde waren, hatten recht, auch wenn sie kein Recht dazu hatten, denn am Ende seiner Einsicht kann man sich selbst nicht recht geben.
Ich brauche jetzt schon keine Feinde mehr, die Wahrheit reicht aus. Ich erschrecke, so oft ich noch hoffe.
Das Hoffen ist mir nie bekommen. Ich erschrecke, wenn ich lache, und ich kann nicht weinen. Meine Trauer erhebt mich über euch alle, und so werde ich stürzen. Meine Augen sind groß von Schwermut, mein Blut weiß alles, und ich möchte tot sein. Aber mir graut vor dem Sterben. Es gibt keine Gnade -
PATER Jetzt versündigst du dich.
ANDRI Sehen Sie den alten Lehrer, wie der herunterkommt und war doch einmal ein junger Mann, sagt er, und ein großer Wille. Sehen Sie Barblin. Und alle, alle, nicht nur mich. Sehen Sie die Soldaten. Lauter Verdammte. Sehen Sie sich selbst. Sie wissen heut schon, was Sie tun werden. Hochwürde. wenn man mich holt vor Ihren guten Augen, und drum starren die mich so an. Ihre guten guten Augen. Sie werden beten. Für mich und für sich. Ihr Gebet hilft nicht einmal Ihnen, Sie werden trotzdem ein Verräter. Gnade ist ein ewiges Gerücht, die Sonne scheint grün in den Bäumen, auch wenn sie mich holen.
Eintritt der Lehrer, zerfetzt.
PATER Was ist geschehen?!
Lehrer bricht zusammen.
So reden Sie doch!
LEHRER Sie ist tot.
ANDRI Die Senora -?
PATER Wie ist das geschehen?
LEHRER - ein Stein.
PATER Wer hat ihn geworfen!
LEHRER - Andri, sagen sie, der Wirt habe es mit eignen Augen gesehen.
Andri will davonlaufen, der Lehrer hält ihn fest.
Er war hier, Sie sind sein Zeuge.
Vordergrund
Der Jemand tritt an die Zeugenschranke.
JEMAND
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