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Andorra

Andorra

Titel: Andorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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wollen, dass man ihnen ein Unrecht tut. Sie warten nur darauf...
    Er wendet sich zum Gehen.
    Waschen Sie das bisschen Blut weg. Und schwatzen Sie nicht immer soviel in der Welt herum! Sie brauchen nicht jedermann zu sagen, was Sie mit eignen Augen gesehen haben.
    Vordergrund
    Der Lehrer und die Senora vor dem weißen Haus wie zu Anfang.
    SENORA Du hast gesagt, unser Sohn sei Jude.
    Lehrer schweigt.
    Warum hast du diese Lüge in die Welt gesetzt?
    Lehrer schweigt.
    Eines Tages kam ein andorranischer Krämer vorbei, der überhaupt viel redete. Um Andorra zu loben, erzählte er überall die rührende Geschichte von einem andorranischen Lehrer, der damals, zur Zeit der großen Morde, ein Judenkind gerettet habe, das er hege und pflege wie einen eignen Sohn. Ich schickte sofort einen Brief: Bist du dieser Lehrer? Ich forderte Antwort. Ich fragte: Weißt du, was du getan hast?
    Ich wartete auf Antwort. Sie kam nicht. Vielleicht hast du meinen Brief nie bekommen. Ich konnte nicht glauben, was ich befürchtete. Ich schrieb ein zweites Mal, ein drittes Mal. Ich wartete auf Antwort. So verging die Zeit... Warum hast du diese Lüge in die Welt gesetzt?
    LEHRER Warum, warum, warum!
    SENORA Du hast mich gehasst, weil ich feige war, als das Kind kam. Weil ich Angst hatte vor meinen Leuten.
    Als du an die Grenze kamst, sagtest du, es sei ein Judenkind, das du gerettet hast vor uns. Warum? Weil auch du feige warst, als du wieder nach Hause kamst. Weil auch du Angst hattest vor deinen Leuten.
    Pause
    War es nicht so?
    Pause
    Vielleicht wolltest du zeigen, dass ihr so ganz anders seid als wir. Weil du mich gehasst hast. Aber sie sind hier nicht anders, du siehst es, nicht viel.
    Lehrer schweigt.
    Er sagte, er wolle nach Haus, und hat mich hierher gebracht; als er dein Haus sah, drehte er um und ging weg, ich weiß nicht wohin.
    LEHRER Ich werde es sagen, dass er mein Sohn ist, unser Sohn, ihr eignes Fleisch und Blut -
    SENORA Warum gehst du nicht?
    LEHRER Und wenn sie die Wahrheit nicht wollen?
    Pause
    – 40 –
    Max Frisch - Andorra
    Neuntes Bild
    Stube beim Lehrer, die Senora sitzt, Andri steht.
    SENORA Da man also nicht wünscht, dass ich es dir sage, Andri, weswegen ich gekommen bin, ziehe ich jetzt meine Handschuhe an und gehe.
    ANDRI Senora, ich verstehe kein Wort.
    SENORA Bald wirst du alles verstehen. -
    Sie zieht einen Handschuh an.
    Weißt du, dass du schön bist?
    Lärm in der Gasse.
    Sie haben dich beschimpft und misshandelt, Andri, aber das wird ein Ende nehmen. Die Wahrheit wird sie richten, und du, Andri, bist der einzige hier, der die Wahrheit nicht zu fürchten braucht.
    ANDRI Welche Wahrheit?
    SENORA Ich bin froh, dass ich dich gesehen habe.
    ANDRI Sie verlassen uns, Senora?
    SENORA Man bittet darum.
    ANDRI Wenn Sie sagen, kein Land sei schlechter und kein Land sei besser als Andorra, warum bleiben Sie nicht hier?
    SENORA Möchtest du das?
    Lärm in der Gasse.
    Ich muss. Ich bin eine von drüben, du hörst es, wie ich sie verdrieße. Eine Schwarze! So nennen sie uns hier, ich weiß...
    Sie zieht den ändern Handschuh an.
    Vieles möchte ich dir noch sagen, Andri, und vieles fragen, lang mit dir sprechen. Aber wir werden uns wiedersehen, so hoffe ich...
    Sie ist fertig.
    Wir werden uns wiedersehen.
    Sie sieht sich nochmals um.
    Hier also bist du aufgewachsen.
    ANDRI Ja.
    SENORA Ich sollte jetzt gehen.
    Sie bleibt sitzen.
    Als ich in deinem Alter war - das geht sehr schnell Andri, du bist jetzt zwanzig und kannst es nicht glauben: man trifft sich, man liebt, man trennt sich das Leben ist vorne, und wenn man in den Spiegel schaut, plötzlich ist es hinten, man kommt sich nicht viel anders vor, aber plötzlich sind es andere, die jetzt zwanzig sind... Als ich in deinem Alter war: mein Vater, ein Offizier, war gefallen im Krieg, ich weiß, wie er dachte, und ich wollte nicht denken wie er. Wir wollten eine andere Welt. Wir waren jung wie du, und was man uns lehrte, war mörderisch, das wussten wir. Und wir verachteten die Welt, wie sie ist, wir durchschauten sie und wollten eine andere wagen. Und wir wagten sie auch. Wir wollten keine Angst haben vor den Leuten. Um nichts in der Welt. Wir wollten nicht lügen. Als wir sahen, dass wir die Angst nur verschwiegen, hassten wir einander. Unsere andere Welt dauerte nicht lang. Wir kehrten über die Grenze zurück, wo wir herkamen, als wir jung waren wie du...
    Sie erhebt sich.
    Verstehst du, was ich sage?
    ANDRI Nein.
    Senora tritt zu Andri und küsst ihn.
    Warum küssen Sie

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