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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Teufel.
    »Ihr war schlecht, schon heute Nachmittag.«
»Wo ist Dianne?«
»Oben. Sie macht sauber.«
»Sie macht…?« Es dauerte einen Moment, bis Tereza begriff.
»O mein Gott, Phil…«
    Sie umarmte mich kurz, dann lief sie die Treppen hinauf. Sie
zog eisig kalten Wind hinter sich her wie eine unsichtbare
Schleppe. Draußen fuhr der Krankenwagen davon. Ich rührte
mich nicht von der Stelle. Wenn ich einfach hier sitzen blieb
und mich nicht bewegte, dann würde Glass am Leben bleiben.
Ich begann wieder zu weinen.
    Kurz nachdem Glass am späten Nachmittag über Übelkeit
geklagt hatte, hatten die Krämpfe begonnen. Sie waren so
plötzlich aufgetreten wie die Kälte, die das Land unmittelbar
vor einem Hagelgewitter überfällt. Glass hatte eine
Wärmflasche mit heißem Wasser gefüllt und sich damit ins Bett
gelegt, und dort war sie stoisch liegen geblieben, auch als die
Krämpfe schlimmer wurden und sie die Wärmflasche gegen
einen Beutel voller Eiswürfel austauschte, der genauso wenig
half. Dieses eine Mal rächte sich ihr Unwille, Hilfe von außen
in Anspruch zu nehmen und sofort einen Arzt zu verständigen.
    Es dauerte einige Minuten, bis Tereza wieder nach unten kam.
Sie glitt langsam die Treppe herab, an einer Hand Dianne, in der
anderen ein verknülltes Laken, durch das es an einer Stelle rot
hindurch gesickert war. Diannes Lippen waren fest aufeinander
gepresst. Ihre Augen waren glasig. Etwas blitzte und strahlte
auf: Mit jeder Stufe, die meine Schwester nach unten nahm,
schlug der halbmondförmige Anhänger aus Silber, den ich ihr
zu Weihnachten geschenkt hatte, gegen ihren grob gestrickten
dunklen Pullover.
    »Was ist da drin?«, flüsterte ich und deutete auf das Tuch.
»Nichts, das ein Kind kennen muss«, sagte Tereza.
Ich hatte sie nie zuvor so blass gesehen. Gott allein wusste,
wie es im Schlafzimmer meiner Mutter aussah, Gott und Glass
und Dianne und Tereza.
     
»Pack ein paar Sachen zusammen, Phil, und du auch, Dianne.
    Wäsche, Zahnbürste.«
»Was für Wäsche?«
»Irgendwas. Beeilt euch.«
Während des Packens fiel kein Wort zwischen mir und
    Dianne. Ich war beunruhigt, weil ihre Arme sich auf genau
dieselbe mechanische Art und Weise hoben und senkten, wie
ich mir die Bewegungen des Blechmannes ohne Herz
vorgestellt hatte, wenn Tereza uns früher aus ‘Der Zauberer von
Oz’ vorgelesen hatte. Ich wusste, dass Dianne die Männer
ablehnte, die Glass besuchen kamen. Darum hatten Glass und
ich befürchtet, sie würde auf die Ankündigung eines Babys
allergisch reagieren. Erstaunlicherweise aber hatte sie die
Ankündigung gelassen hingenommen – sie war nicht in
Freudentränen ausgebrochen, aber auch nicht in ablehnendes
Geschrei. Es mochte Wunschdenken von mir gewesen sein,
doch ich hatte angenommen, dass sie sich insgeheim sogar auf
das Baby gefreut hatte, vielleicht wie auf eine Puppe, denn kurz
darauf hatte sie begonnen, sich ausgesprochen rührend zu
verhalten, Glass die Kissen zurechtzuklopfen, bevor sie sich in
das Sofa am Kamin fallen ließ, ihr Unmengen von Tee zu
kochen, ihr Frühstück und Abendbrot zuzubereiten.
    Die Haustür stand immer noch offen, als wir aus unserem
Zimmer zurück in die Eingangshalle kamen. Es war entsetzlich
kalt, gemeinsam mit Glass schien auch alle Wärme Visible
verlassen zu haben. Tereza saß auf der Treppe, auf derselben
Stufe, auf der zuvor ich gesessen hatte. Sie starrte ins Leere und
schluchzte trocken. Das rote Laken war verschwunden. Sie
verfrachtete Dianne und mich in ihr Auto, nahm uns mit und
quartierte uns bei sich ein. Tags darauf bestellte sie telefonisch
zwei Männer einer Reinigungsfirma nach Visible.
    »Wie lange bleiben wir bei dir?«, fragte ich sie am ersten
Abend. Wir saßen zu dritt auf der Schlafcouch, die Tereza im
Wohnzimmer für Dianne und mich ausgezogen hatte. Das Licht
einer Stehlampe warf lange Schatten gegen die Wände, und
Dianne starrte in diese Schatten, als könne sie das Muster
schwarzer Konturen mit ihrem glasigen Blick zum Leben
erwecken.
    »Bis Glass aus dem Krankenhaus entlassen ist«, sagte Tereza.
»Vielleicht noch ein wenig länger. Solange ihr möchtet.«
Ich kuschelte mich an sie. Ich wollte nie wieder nach Hause
zurückkehren. Ich war fest davon überzeugt, Visible werde über
mir zusammenstürzen, weil die Mauern und das Gebälk des
Hauses das Unglück nicht ertragen konnten, das über meine
Mutter hereingebrochen war. In dieser ersten Nacht träumte ich,
ich

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