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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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aus.
Ich hätte sie gern getröstet, einen Arm um sie gelegt,
schreckte aber instinktiv davor zurück. Etwas in Tereza
verweigerte sich jeder Anteilnahme. Glass war für sie mehr als
eine Freundin, und Liebe erlöscht nie, sie ändert bestenfalls ihre
Form. Tereza musste ihren Kummer allein exorzieren. Ich
betrachtete ihr traurig herabhängendes rotes Haar, die kleinen
Löcher, die ihre Tränen in den Schnee zu ihren Füßen brannten,
und dachte an die Gewitternacht, in der wir ihren Vater beerdigt
hatten, dachte daran, wie Tereza auf dem nassen, schmutzigen
Grabhügel gekniet und ihre Trauer in den Himmel geheult hatte,
und ich fühlte einen Klumpen in meiner Kehle aufsteigen. In
diesem Augenblick hätte ich ein Königreich gegeben für eine
Tüte Gummibärchen.
Als endlich der Tag kam, an dem Dianne und mir ein kurzer
Besuch im Krankenhaus gestattet wurde, war ich so außer Rand
und Band, dass Tereza damit drohte, eine Hundeleine zu kaufen
und sie mir um den Hals zu legen. Aber alles, was nötig war um
mich ruhig zu stellen, war der Anblick meiner Mutter. Glass lag
matt und blass in ihrem Bett, in einem Zimmer, das mir
entschieden zu kalt vorkam und in dem ein aufdringlicher
Geruch herrschte, der ungute Erinnerungen in mir wachrief. Sie
brachte kaum die Kraft auf, uns auch nur zu begrüßen. Sie war
auch schon zu schwach gewesen, Tereza daran zu hindern, sie
hier als Privatpatientin anzumelden. Eine Weile saßen Dianne
und ich schweigend neben Glass auf dem Bettrand; ich nahm
ihre Hand, die überraschend warm war, drückte sie, ohne dass
der Druck erwidert wurde, und war dennoch, wenigstens für den
Moment, selig. Irgendwann schlief sie ein.
»Wird sie wieder ganz gesund?«, fragte Dianne, als wir mit
Tereza das Krankenhaus verließen.
»Ja. Aber das wird eine Weile dauern.«
Es dauert Monate, bis weit in den Sommer hinein. Körperlich
war Glass relativ rasch wiederhergestellt, schon nach zehn
Tagen im Krankenhaus kehrte sie nach Visible zurück.
Aber auf ihre Seele hatte sich ein schwarzes Tuch gelegt, das
sich nur langsam und zögernd wieder entfernte. Als dann der
letzte Zipfel sich gelüftet hatte, war Glass augenscheinlich
wieder ganz die Alte, doch inzwischen kannte ich sie gut genug
um zu wissen, dass sie lediglich genug Kraft zurückgewonnen
hatte, um sich Scheuklappen vor die Augen zu setzen.
Von dem Tag an, als Glass aus dem Krankenhaus entlassen
wurde, ging mit Dianne eine sichtbare Verwandlung vor. Sie
blühte auf, ein inneres Leuchten ging von ihr aus. In ihr Gesicht,
seit Wochen so blass, kehrte zum ersten Mal ein Hauch von
Farbe zurück. Sie kümmerte sich liebevoll um Glass. Genau wie
vor der Fehlgeburt verwandelte Dianne sich auch jetzt wieder in
die personifizierte Fürsorge, und obendrein war sie nun auch
noch eine mustergültige Krankenpflegerin. Geschäftig huschte
sie schon am frühen Morgen in die steinkalte Küche, servierte
Essen, kochte rund um die Uhr Tee, bereitete im Badezimmer
Wundbäder, las Glass aus der Zeitung vor und gab, wenn auch
vergebens, ihr Bestes, unsere Mutter aufzuheitern.
Nach kurzem hielt ich sie für einen Engel.
»ICH HAB ES IHR IM TEE verabreicht, in kleinen Dosen,
damit sie es nicht schmeckt«, sagt Dianne. »Falls es überhaupt
etwas zu schmecken gab. Ich habe es nie probiert.«
Sie klappt das Herbarium zu, stellt es an seinen angestammten
Platz ins Regal zurück und bleibt dort stehen. Ich sehe ihren
Hinterkopf und ihren Rücken, der leicht gebeugt ist, wie in
Erwartung von Schlägen. Ihre Arme sind zu beiden Seiten
ausgestreckt, die Hände klammern sich an ein paar Buchrücken.
»So einfach ist das«, höre ich sie leise sagen. »Jetzt weißt du,
warum Glass mich hasst.«
»Sie hasst dich nicht.«
Meine eigene Stimme klingt plötzlich wie die eines Fremden.
Ich weiß nicht, was mich tiefer getroffen hat, Diannes
Geständnis oder die fast nüchterne Beiläufigkeit, mit der sie es
abgelegt hat. Ich fühle mich, als hätte man meinen ganzen
Körper mit einem Messer ausgehöhlt.
»Doch, Phil, das tut sie.« Dianne dreht sich zu mir um. Ich
habe ihre Augen noch nie so dunkel gesehen. »Verstehst du
nicht, ich hätte sie umbringen können! Ich hatte keine Ahnung
von der richtigen Dosierung!«
»Wie ist sie dahinter gekommen?«
»Gar nicht. Jedenfalls nicht von selbst.« Dianne geht langsam
zur Flügeltür, gegen die der Wind von außen Schneekristalle
treibt. Sie prasseln gegen das Glas wie Hagelkörner.

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