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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Anstrich und eine matte Lackierung entschieden.
»Ich kann später noch mal kommen«, sagt Dianne. Sie
betrachtet die Vitrine. »Nette Farbe.«
»Anfangs hatte ich noch an Gelb gedacht.«
»Grün ist okay.«
»Grün wie der Lack an Hoffmanns Praxis?«
Sie grinst. »Ja. Ungefähr so.«
Ich nehme meine Arbeit wieder auf. Dianne bleibt in der Tür
stehen und beobachtet mich. Ich mache ein, zwei Striche mit
dem Pinsel, dann kapituliere ich und lasse ihn mit einem
Seufzer wieder sinken. »Also gut. Worum geht es?«
»Willst du immer noch wissen, warum Glass und ich ein
Problem miteinander haben?«
Um ein Haar fällt mir der Pinsel aus der Hand. Ich fühle mich
völlig überrumpelt. Auf dieselbe harmlose Art hätte sie mich
fragen können, ob ich Kaffee lieber mit oder ohne Milch trinke.
Ich kann nur nicken.
»Dann komm mit.«
Eine der Lebensweisheiten, die Glass ihren Kundinnen
verkauft wie Pralinen mit wahlweise süßer oder bitterer
Füllung, je nach Bedarf, ist die, dass es für alles einen Ort und
eine Zeit gibt. Mag sein, dass Dianne diese Weisheit
verinnerlicht hat, ich frage sie nicht danach. Meine Neugier ist
größer als das Interesse an ihren Motiven. Ich folge ihr durch
den Flur und die kalte Eingangshalle, überrascht, dass unser
Weg in die Bibliothek führt. Dianne geht zielstrebig an ein
Regal, nimmt eines der in Leder gebundenen Herbarien von
Terezas Vater heraus und schlägt es auf – muss es kaum
aufschlagen, weil die Seiten sich an einer bestimmten Stelle fast
von allein öffnen.
Plötzlich kommt es, mit aller Macht – das Gefühl, einen
Fehler begangen zu haben, indem ich Dianne hierher gefolgt
bin; das Verlangen, auf der Stelle kehrtmachen und davonlaufen
zu wollen; das Wissen, dass ich meiner Schwester nie hätte
Fragen stellen dürfen, ohne auf die schrecklichste aller
Antworten gefasst zu sein. Sie deutet auf fünf schwarzviolette,
sehr kleine, nageiförmige Zapfen, die mit einem kaum
sichtbaren Klebstreifen auf der Seite befestigt sind.
»Was ist das?«
»Secale cornutum. Mutterkorn. Keine richtige Pflanze,
sondern ein Pilz. Ich hab immer noch ein fast volles Glas
davon.«
»Dianne, ich…« Aber natürlich ist sie nicht mehr aufzuhalten,
sind die Worte schon so gut wie gesagt.
»Mutterkorn enthält ein Alkaloid. In niedriger Dosierung
bewirkt es Krämpfe, besonders Krämpfe der glatten
Muskulatur. Hebammen haben es über Hunderte von Jahren
benutzt, um bei Frauen damit Wehen auszulösen oder zu
verstärken.«
    GLASS VERLOR DAS BABY Ende Januar, fast auf den Tag
genau vier Wochen nachdem sie mir auf der Brücke über dem
vereisten Fluss offenbart hatte, dass sie schwanger sei. Es
geschah nachts, Dianne und ich wurden von ihren Schreien
geweckt. Draußen schneite es seit Tagen beständig, die Welt
trug Weiß, und es stürmte, nicht allzu heftig, aber stark genug,
dass ich später überlegte, die ersten zwei oder drei Schreie von
Glass möglicherweise überhört zu haben. Nicht, dass das etwas
geändert hätte.
    »Phill! Phiiiiiiillllll…!«
Ich verständigte den Notruf. Nach der Telefonnummer musste
ich nicht suchen, Glass hatte sie Dianne und mir schon
eingebläut, kaum dass wir das Wort Telefon richtig
    auszusprechen gelernt hatten. Sie hatte uns sogar das HeimlichManöver beigebracht, das in Amerika jedes Schulkind
beherrschte, eine Art Umklammerungsgriff, mit dem man
jemandem, der sich an seinem Essen verschluckt hat,
Fremdkörper aus der Speiseröhre entfernen und ihn so vor dem
Ersticken retten kann. Glass hatte uns vor Abflussreinigern und
Spülmitteln, vor Tabletten, Salben und Pasten, vor bösen
Männern, bösen Frauen und vor Messer, Gabel, Schere, Licht
gewarnt, alles um uns zu schützen, und jetzt war sie es, für die
jeder Schutz zu spät kam.
Erst viel später fiel mir ein, auch Tereza anzurufen. Als sie in
    Visible eintraf, reflektierten die Wände der Eingangshalle
bereits das rotierende Blaulicht des Krankenwagens, der mit
laufendem Motor draußen in der Einfahrt stand. Durch die
offene Haustür wehte Schnee in die Halle, er wanderte in
glitzernden Schlangenlinien über den gekachelten kalten Boden.
Ich saß zusammengekauert am Fuß der Treppe und weinte, weil
ich dachte, Glass müsse sterben.
    »Was ist passiert?«, fragte Tereza, so atemlos, als wäre sie den
weiten Weg bis nach Visible gerannt. Sie trug einen
altmodischen, rot und grau gestreiften Pyjama, über den sie
einen offenen Mantel geworfen hatte. Sie musste gefahren sein
wie der

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