Andreas Steinhofel
Ich trete
an eines der Fenster, lege die Hände zu einem Guckkasten
geformt gegen die Scheibe und blicke durch das Glas.
Selbst wenn man von außen in den Raum hineinsieht, bleibt
der Eindruck bestehen, dass er sein eigenes Licht erschafft und
es nach draußen sendet. Ein warmes, gelbes Leuchten. Ich habe
mich getäuscht, als ich bei meinem ersten Besuch glaubte, dass
es die Gegenstände im Regal und in den Vitrinen sind, die
dieses Leuchten verursachen. Es muss von Nicholas
ausgegangen sein, so wie es auch jetzt von ihm ausgeht, in
pulsierenden Strahlen, die sich wie Wellen an meinen Augen
brechen. Das Licht steigt von seinem nackten Körper auf, der
dort drinnen ausgestreckt auf dem Boden liegt und der noch
immer letzte bronzefarbene Spuren von Sommerbräune
aufweist. Es strömt wie Wasser über seine leicht gespreizten
Beine, über seine sehnigen Arme, die schönen Hände. Es
ergießt sich sogar über seine Lippen, ein perlender goldener
Schwall, als Nicholas den Mund öffnet, wie zu einem stillen
Schrei. Ich ziehe mich von dem Fenster zurück, nicht weil ich
Angst habe, gesehen zu werden, sondern weil ich befürchte,
dass dort drinnen die Laute hörbar sind, die meine Kehle
hinaufkriechen wie schwarze Spinnen, die sich aus einem
geplatzten Kokon drängen. Wenn ich könnte, würde ich mit
geschlossenen Augen laufen.
Aber selbst als ich längst wieder in Visible bin, als ich die Axt
aus dem Holzschuppen geholt habe und damit brüllend auf die
für Nicholas gezimmerte Vitrine einschlage, bis alle Kraft
meine Arme verlässt und der Boden mit tausend Splittern
übersät ist, sehe ich noch immer den gestreckten,
durchgebogenen Rücken und den Hinterkopf dieses Mädchens,
das rittlings auf Nicholas sitzt und das sich sehr langsam, als
wolle es ihn nicht verletzen, mit vorsichtigen, kreisförmigen
Bewegungen der Hüften auf und ab bewegt, und ich sehe den in
den Nacken geworfenen Kopf mit den schwarzen Haaren, Kats
schwarzen Haaren, die gestern noch blond gewesen sind.
»WANN UND wo beginnen die Dinge, meine Damen und
Herren? Man glaubt, das Leben folge einem bestimmten Plan,
einem irgendwie gearteten Muster, einem offenen oder
geheimen Sinn. Warum?«
Wie üblich warf Händel die Frage einfach in den Raum, und
wie üblich war sie rein rhetorischer Natur. Ich mochte es, wenn
er ohne besonderen Anlass plötzlich abschweifte, einfach
drauflosdozierte und dabei – anders, als wenn er Mathematik
unterrichtete – keinen Wert darauf legte, dass man seine Fragen
beantwortete.
»Wir glauben an einen Sinn, weil wir den Gedanken nicht
ertragen können, dass alles dem blinden Zufall unterliegt. Wir
glauben an Zeichen, aber glauben Sie mir, es gibt keine
Zeichen. Beethoven schuf einige seiner größten Kompositionen,
nachdem er ertaubt war: Bedeutende Dinge vollziehen sich im
Stillen. Katastrophen ereignen sich, ohne dass sich zuvor der
Himmel verdunkelt. Kinder, aus denen einst historische
Persönlichkeiten werden, die der Welt ihren Stempel
aufdrücken, werden nicht bei Blitz und Donner geboren.
Bahnbrechende Entdeckungen werden gemacht, und an keinem
Ort der Welt blüht im selben Moment eine besonders schöne
Blume auf. Es gibt keine Zeichen, meine Damen und Herren. Es
gibt bestenfalls Zufälle. Alles andere ist Aberglaube.«
Manchmal, so wie jetzt, schwieg Händel nach einer längeren
Ausführung, tippelte kurz hin und her, sammelte seine
Gedanken und sprach dann weiter.
»Irgendwann, nachdem der Mensch den aufrechten Gang und
das Feuer zu beherrschen gelernt hatte, meine Damen und
Herren, muss er gespürt haben, dass er trotz seiner Artgenossen,
die im Widerschein zuckender Flammen mit nassen Erdfarben
die Umrisse von Mammuts und Säbelzahntigern an
Höhlenwände malten, allein war und auf sich gestellt. Ah, und
was geschah? Diese Erkenntnis ließ ihn verzweifeln! Und auf
dieser Verzweiflung gründeten sich Religionen, die Trost
spendeten in einer Wüste aus Sinnlosigkeit und Schmerz,
vielleicht das Einzige, wozu sie wirklich gut sind. Denn
Religionen spenden Trost, aber keine Erkenntnis.«
Jemand hob protestierend einen Arm, doch Händel sah
einfach darüber hinweg. »Glaube«, zitierte er abschließend
irgendeinen Philosophen, »ist eine Beleidigung für die
Vernunft.«
Es war eine Bemerkung, die ihn beinahe seine Stelle kostete;
zumindest seine Versetzung wurde von der Schulleitung in
Erwägung gezogen. Unwillig, wie ich von Kat erfuhr; alle
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