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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Sympathien galten Händel, und letztlich beschloss ihr Vater, die
ganze Sache einfach auszusitzen, allerdings ohne sich dabei zu
weit aus dem Fenster zu hängen und seinen besten
Mathematiklehrer öffentlich zu verteidigen. Einige Eltern
wollten sich auch nach Wochen kaum beruhigen. Die Kleinen
Leute waren wackere, aufrechte Christenmenschen. Wenn Gott
tot war, wie Händel in seinem inzwischen berüchtigten Vortrag
behauptet hatte, so hatte sich diese Neuigkeit jedenfalls noch
nicht bis zu ihnen herumgesprochen.
    »Vielleicht zu ein paar von den Männern«, räumte Glass ein,
als wir gemeinsam in der Küche saßen und den Skandal
diskutierten. »Sonst würden manche von ihnen angesichts des
zu erwartenden göttlichen Zorns ihre Frauen nicht in schöner
Regelmäßigkeit krankenhausreif schlagen.« Sie überlegte.
»Wahrscheinlich waren es sogar die Männer, die Gott um die
Ecke gebracht haben. Schließlich haben sie ihn auch erfunden,
oder?«
    »Warum unterhältst du dich nicht mal mit Händel darüber?«
»Oh, der ist mir etwas zu korpulent.«
»Mum!«
Glass lachte. »Weißt du, er hat ganz Recht, dein Händel. Das
    Leben folgt keinem Sinn. Es verläuft völlig planlos. Es will
nicht mehr, als dass man es weitergibt. Und was das angeht,
Darling, habe ich meine Pflicht und Schuldigkeit getan.«
    Ich hörte ihr zu und sah, wie sich hinter ihr ein Schatten an der
Wand erhob, Händels Schatten, der zustimmend nickte. Aber
selbst Glass, und vielleicht sogar Händel, hätten zugegeben,
dass jeder Mensch in seinem Leben Wegkreuzungen erreicht,
die in verschiedene Richtungen weisen und an denen er sich
entscheiden muss, welche davon er einschlagen will. Wer in
seinem Leben keinen Sinn entdeckt, kann immer noch
versuchen, ihm wenigstens ein Ziel zu geben. Wenn er Glück
hat, läuft beides irgendwann auf das Gleiche hinaus.
    Wann und wo also haben die Dinge begonnen? Vielleicht
haben sie begonnen, als vor fast zweihundert Jahren in Asien
ein Schmetterling mit den Flügeln klappte und die Luft
bewegte, sich darauf in Europa das Wetter änderte und so einem
meiner Vorfahren ein Wind ins Gesicht blies, der nach
Veränderung schmeckte. Oder als Glass den Entschluss fasste,
Amerika zu verlassen, sitzen gelassen von meinem mir
unbekannten Vater. Vielleicht haben die Dinge begonnen, als
Tereza feststellte, dass ich niemals in meinem Leben lernen
würde auf zwei Fingern zu pfeifen oder Fußball zu spielen. Als
ich ein kleines, bandagiertes Mädchen mit einer Vorliebe für
Kirscheis in Halsnasenohren kennen lernte, als ich Nicholas auf
der verschneiten Treppe der Kirche sah, unter deren Stufen er
meine Schneekugel fand, als Dianne sich auf das von
Fledermäusen umschwärmte Dach Visibles flüchtete.
    Vielleicht haben die Dinge auch schon begonnen, als vor
Jahrmillionen irgendein blinder, gelangweilter Gott in die
Finger schnipste und so den Urknall auslöste.
Ja, ganz sicher. So muss es sein.

TEIL DREI
DIE VERTREIBUNG DES WINTERS
     
GESPENSTER
    DER MONTAG VERGEHT als zeitloses, gesichtsloses
Vakuum. Glass und Dianne habe ich erklärt, die Grippe hätte
mich erwischt. In mein Zimmer und die schützende Höhle
meines Betts zurückgezogen, baue ich meterhohe
Gedankentürme aus den immer gleichen Bausteinen, reiße sie
Stück um Stück wieder ein oder sehe dabei zu, wie sie von
selbst in sich zusammenstürzen. Stundenlang starre ich stumpf
gegen die Wand, sehe vor mir Kat und Nicholas, Nicholas und
Kat, und drehe dabei die Schneekugel zwischen den Händen
wie einen Fetisch, von dem ich nicht weiß, ob er mir Glück oder
Unglück bringt. Der Raum ist überheizt. Ich verlasse das Bett
nur, um neues Brennholz aus dem Schuppen zu holen.
    Ich träume von meinem Teich. Sein Wasser umschließt mich
pechschwarz und kalt. Ich sinke tief und immer tiefer, selbst im
Traum suchen meine Füße vergebens nach Grund. Es ist ein
Gefühl von Bewegung in absoluter Ruhe und absoluter
Dunkelheit – freier Fall, ein schwebendes Abwärts, das weder
Halt kennt noch Aufschlag.
Am Dienstag ruft mich Kat an.
    »Was ist los mit dir?«, tönt es aus der Leitung. »Warum
kommst du nicht zur Schule?«
»Grippe.«
»Oh… Na ja, verpasst hast du nichts. So kurz vor den Ferien
läuft ja nichts mehr. Händel hat Kekse mitgebracht und uns die
Weihnachtsgeschichte von Dickens vorgelesen. Kerzen auf den
Tischen und so, es war echt gemütlich. Hätte dir gefallen.«
»Könntest du mich entschuldigen?«
»Kein

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