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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Problem. Ich geb’s direkt an meinen Dad weiter.«
Eine kurze Pause entsteht, die nur durch ein leises Knacken in
der Leitung unterbrochen wird. Ich schließe die Augen.
»Tja, also…«, sagt Kat zögernd. »Ich weiß nicht, ob ich es
schaffe, noch mal bei dir reinzusehen. Weihnachtseinkäufe und
was weiß ich noch. Packen natürlich. Morgen fahren wir ja
schon in Urlaub. Nachmittags.«
»Ist okay. Wir sehen uns nach Silvester.«
»Ja. Dann also…« Jeder von uns lauscht den Worten des
anderen nach. »Dann bis nächstes Jahr. Guten Rutsch und so.
Und pass auf dich auf.«
»Kat?«, sage ich schnell.
»Ja?«
»Hast du es getan?«
Ich glaube, ein zischendes Einatmen zu hören, aber vielleicht
täusche ich mich auch.
»Was getan?«
»Dir die Haare gefärbt.«
»Was? Oh, ja, klar! Die sind jetzt schwarz. Du wirst es nicht
mögen, oder? Aber ich fühle mich wie ein völlig neuer
Mensch.«
Ich heule in mein Kissen, nachdem sie aufgelegt hat.
Die nächsten Stunden sind von fast hellsichtiger Klarheit. Ich
blicke auf die kahlen Bäume vor dem Fenster. Wie auf einem
Röntgenbild kann ich deutlich die hinter Rinde und Borke
verborgenen, erfrorenen Leitbündel in den Stämmen und Ästen
erkennen. Das Leben stockt darin in Form winziger, vereister
Kristalle. Ich zähle phantastisch gewundene Moleküle und
unhörbar leise pulsierende Atome.
Später, irgendwann zwischen Wachen und Schlafen, steht
Dianne in meinem Zimmer, wenigstens glaube ich, sie dort
stehen zu sehen. Draußen regiert die Dämmerung, alles ist
unteilbar grau, der Raum, das Licht, Dianne selbst. Nur ihre
Augen leuchten so unbarmherzig weiß, wie die Porzellanaugen
Paleikos geleuchtet haben, als er noch nicht in tausend Scherben
zerbrochen war.
Erwarte nicht, dass ich dir jetzt helfe, Phil.
Nein… Das kommt davon, dass ich dich allein gelassen habe,
oder?
Du hast dich jahrelang einen Scheißdreck um mich
gekümmert. Hast du gewollt, dass ich mich in einen Schatten
verwandele?
Nein.
Das Wasser im Fluss war so kalt. Und der Mond war so hell,
dass sein Licht mir die Augen verbrannte.
Es tut mir Leid.
Das sagen nur Menschen, die nichts wissen oder die nichts
wissen wollten.
Bleib bei mir.
Das kann ich nicht, Phil.
Nicholas ist wirklicher als Dianne. Und lebendiger – auf eine
schlecht fassbare Art wirkt er lebendiger auf mich als je zuvor.
Er taucht am Mittwoch auf, am Tag von Kats Abreise in den
Urlaub. Er steht in meinem Zimmer, wie von einer Aura aus
sprudelndem blauem Sauerstoff umgeben. Glass hat ihn ins
Haus gelassen. Die schwarzen Haare glänzen, die dunklen
Augen blitzen, sein Gesicht hat die Farbe eines gesunden
Apfels. Er trägt teure Handschuhe aus hellbraunem, sehr
dünnem Leder, die er nicht auszieht.
»Du siehst fürchterlich aus. Kat sagt, du hättest Grippe?«
»Es geht schon wieder.« Ich könnte ihn fragen, warum er sich
seit Tagen nicht gemeldet hat, aber er wird sowieso lügen.
»Ich hab dir was mitgebracht.« Nicholas hebt ein Päckchen
hoch. Auf dem glänzenden Geschenkpapier prangen
Christbaumkugeln und Kerzen und Kinderspielzeug. »Aber erst
Weihnachten aufmachen, versprochen?«
»Sehen wir uns noch mal, bevor du mit deinen Eltern
wegfährst?«
»Das wird schwierig.« Er geht zum Regal und legt das
Päckchen darauf ab. »Es geht Freitagabend los, und vorher
muss ich -«
»Weihnachtseinkäufe erledigen. Und packen natürlich.«
»Genau.« Mein Sarkasmus entgeht ihm. Er schiebt den Ärmel
des Mantels hoch und sieht auf die Uhr. »Eigentlich hab ich es
jetzt schon ziemlich eilig.«
Ich kann ihn nicht angreifen, weil ich damit beschäftigt bin,
mich zu verteidigen. Nicholas setzt sich auf die Bettkante und
streicht mir mit einer behandschuhten Hand über die Wange.
Ich verbiete mir, an die Hände unter dem weichen hellbraunen
Leder zu denken, oder an die Warme seiner Haut. Dann küsst er
mich auf die Stirn. Seine Lippen sind kalt. Ich wappne mich
gegen sein Lächeln, indem ich an verstümmelte Körper denke,
an die zerrissene, blutrote Hinterlassenschaft irgendeines
Krieges.
»Ich möchte dich noch mal sehen, bevor du fährst«, sage ich.
»Hat das nicht Zeit bis nach Weihnachten?«
»Nein.«
Er grinst. »Es ist keine tödliche Grippe, oder?«
»Würdest du bei mir bleiben, wenn es so wäre?«
Anstelle einer Antwort steht er auf und glättet mit den
Handschuhen die Vorderseite seines Mantels. »Ich muss jetzt
wirklich los. Meine Mutter erwartet, dass ich sie zum Einkaufen

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