Andreas Steinhofel
Schuld und Sühne, über Liebe und Tod
nachhänge. Ich starre seit Stunden die Wand an, als gälte es, mit
meinen Blicken ein Loch in Visibles Mauerwerk zu brennen.
Vor mir sehe ich eine schreckliche Blume, die sich in endloser,
zeitlupenhafter Wiederholung öffnet und schließt und mit jedem
vollendeten Zyklus diese klare, gallertartige Flüssigkeit aus
ihrem zerstörten Kelch spuckt.
Abgesehen von allgemeinen Bekundungen des Erschreckens
und Bedauerns sind die Reaktionen auf das Geschehene
unterschiedlich ausgefallen. Glass’ Betrachtungsweise war von
der ihr eigenen Nüchternheit. Nichts und niemand, meinte sie,
sei so wichtig, dass die Welt dafür stehen bleibe; ich solle mich
glücklich schätzen, dass der Unfall – man nennt das doch einen
Unfall, Darling? – mit Nicholas zu einem Zeitpunkt erfolgt ist,
als ich seelisch ohnehin auf dem Zahnfleisch ging. Sie hat mich
dezent darauf hingewiesen, dass sie zwar größtes Verständnis
dafür hat, wenn ich mich einmal mehr in meinem Zimmer
einschließe um dort mit dem Schicksal zu hadern, ansonsten
aber keineswegs gewillt ist, meine trüben Selbstbespiegelungen
durch ständige Anlieferungen von Speisen und Getränken zu
unterstützen.
Sowohl Michael als auch Tereza haben angeboten, Nicholas
vor Gericht zu vertreten, falls er oder seine Eltern sich, wie zu
erwarten ist, zu einer Anzeige gegen Thomas entschließen
sollten. Ich habe beiden gesagt, dass sie sich direkt an Nicholas
wenden müssen, wenn ihnen an dem Fall gelegen ist, und mich
ansonsten mit diesem Thema nicht mehr behelligen sollen. Ich
war wenig höflich, danach tat mir mein Verhalten Leid. Ich
entschuldigte mich bei ihnen, danach hasste ich sie für ihr
Verständnis.
Pascal hat Minuspunkte von allen Seiten gesammelt mit der
Bemerkung, man solle am besten jedem Mann ein Gewehr in
die Hand drücken, dann wäre die Welt schon bald um ein
gewaltiges Problem ärmer. Dianne musste grinsen, als ich ihr
davon erzählte. Ansonsten hat meine Schwester,
dankenswerterweise, ihre Meinung für sich behalten.
Die lauteste Reaktion ist von der anderen Seite des Flusses
gekommen. Es ist grotesk, aber eigentlich hatte ich es kaum
anders erwartet: Wider besseres Wissen geben die Kleinen
Leute mir die Schuld an dem, was geschehen ist. Thomas hat
irgendwelche Schmuddelgeschichten über mich in die Welt
gesetzt, und ich musste unwillkürlich an Irene, das unglückliche
UFO, und an ihren Peiniger Doktor Hoffmann denken, an das
Vertauschen von Opfer und Täter. Ich habe mehrere Briefe
erhalten, alle ohne Absender, alle abgestempelt im Ort. Zwei
von ihnen sind handgeschrieben. Für den dritten hat sich
tatsächlich jemand die Mühe gemacht, die Tageszeitung zu
zerschnipseln, einzelne Worte und verschieden große
Buchstaben auszuschneiden und sie zu einem Alphabet des
Hasses neu zu arrangieren, das mir bisher fremd war, das Tereza
und Pascal aber längst auswendig kennen.
Jetzt, als ich Glass herumkrakelen höre, springe ich aus dem
Bett, haste die Treppen hinunter in die Eingangshalle und stürze
dabei so unglücklich von der letzten Stufe, dass ich mir den
linken Knöchel verstauche. Mein Schmerzensschrei mischt sich
mit Gables Lachen, mein Weinen, als endlich, endlich der
Damm bricht und ich mich an Gables Brust lehne, in sein
beruhigendes Murmeln, das keine Worte benötigt und das
klingt, als habe er das Meer mitgebracht. Seine Hände gleiten
über meinen Kopf, streicheln meinen Rücken, meine Schultern
und Arme. Gable weiß genau, was er tun muss. Unter seinen
Berührungen schließen sich zögernd erste Wunden.
Dennoch bleibt Nicholas präsent. Es sind keine konkreten
Erinnerungen an ihn, die sich in mein Bewusstsein drängen; das
einzige Bild, dass immer wieder ganz klar vor mir aufsteigt, ist
der Anblick seines schrecklich zerstörten Auges. Ansonsten ist
da nur das Gefühl unwiederbringlichen Verlustes. Und die vage
Ahnung, nur knapp einer Strafe entgangen zu sein, die nicht nur
mir gegolten hat, sondern von der ich auch glaube, sie eher als
Nicholas verdient zu haben. Manchmal gelingt es mir, diese
Gedanken für kurze Zeit zu verdrängen, doch selbst dann ist
Nicholas noch da. Er steht in der dunklen Ecke eines ansonsten
hell erleuchteten Zimmers und wartet nur darauf, mit einem
Schritt nach vorn aus dem Schatten zu treten. Als mir alles zu
viel wird, schließe ich die Tür zu diesem Zimmer, drehe den
Schlüssel um und ziehe ihn ab, so wie Tereza es
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