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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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jedoch, wer sie anführte. Es war der
Brocken. Er stand etwas abseits, er hielt die dicken Hände auf
die Hüften gestützt, und er versprühte Aggressivität wie eine
abbrennende Wunderkerze Funken.
Jeder kannte den Brocken. In der Schule fiel er unangenehm
auf, nicht nur wegen seiner hohen Stimme, die in krassem
Gegensatz zu seiner auffälligen Körperfülle und Stärke stand,
sondern vor allem, weil er ein brutaler Schläger war, von allen
gefürchtet, denen er die Gunst versagte, sich zu seinen Freunden
zu zählen. Weder Dianne noch ich gehörten zu seinen Freunden.
Bis jetzt hatte ich mir eingebildet, auch nicht zu seinen Feinden
zu gehören.
»Dianne?«, flüsterte ich. Sie musste die Kinder gesehen, den
Brocken gehört haben. Doch sie war nicht mehr da, sie war
hinter der Flussbiegung verschwunden.
Fortgelaufen, dachte ich. Meine Beine waren wie gelähmt,
meine Füße wie festgefroren in dem plötzlich eisig kalten
Wasser. Die Phalanx der Kinder fächerte sich auf, jetzt konnte
ich sie zählen. Den Brocken eingeschlossen waren es sieben.
Einige von ihnen kannte ich vom Sehen.
»Das Mädchen ist abgehauen!«
»Die kriegen wir schon noch.«
Sie ließen dem Brocken den Vortritt. Er war der Führer des
Rudels, er durfte die Beute schlagen; die anderen würden sich
mit den kläglichen Resten zufrieden geben. Behände glitt der
Brocken den sandigen Hügel herab. Dann verlangsamte er das
Tempo, beinahe gemächlichen Schrittes durchquerte er die Furt
und kam auf mich zu. Er war einen Kopf größer als ich; als er
endlich vor mir stand, musste ich zu ihm aufsehen.
»Deine Mutter ist eine Dreckfotze, weißt du das?«
Wenn er leise sprach, klang seine Stimme weniger schrill. Ich
bemerkte, dass einem seiner Schneidezähne eine winzige Ecke
fehlte. Seine Nase sprenkelten kleine Sommersprossen.
»Sag es: Meine Mutter ist eine Dreckfotze.«
Ich schüttelte den Kopf. Er würde mich ohnehin verprügeln,
und er würde nicht fair kämpfen. Ich würde Schläge beziehen,
wie ich sie in meinen schlimmsten Träumen nicht erwartet
hatte. Der Brocken würde mich umbringen, und ich würde mich
nicht wehren, aus der verrückten Angst heraus, ihm wehzutun.
Doch all diese Schrecken zusammengenommen konnten den
Gedanken nicht aufwiegen, dass meine Schwester mich im
Stich gelassen hatte und davongelaufen war.
»Los, mach schon!« Er versetzte meiner Schulter einen
ungeduldigen Schubs. »Sag es: Meine Mutter -«
Die anderen Kinder, zwei Mädchen und vier Jungen, hatten
sich inzwischen am Ufer versammelt. Kleine Leute, grinsende
Richter, die auf die Vollstreckung eines Urteils warteten.
Plötzlich stieg blinde Wut in mir auf.
»Okay.« Ich holte tief Luft und sah dem Brocken direkt ins
Gesicht. »Deine Mutter ist eine Dreckfotze.«
Was auch immer das war.
Hinter dem angebrochenen Zahn entstand ein empörtes
Schnalzen. Mit unerwarteter Schnelligkeit wurde ein Arm um
meinen Hals gelegt und zugedrückt. Eine Faust versank in
meinem Magen, einmal, zweimal. Der Schmerz und die ihm
folgende Übelkeit waren weniger schlimm als das panische
Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich röchelte. Der
Brocken zwang mich in die Knie und verdrehte dabei meinen
Kopf, die Welt vertauschte oben und unten: Dicht über mir
funkelte das Wasser des Flusses, unter mir flirrte Licht,
dazwischen verschwamm das dunkle Grün der Bäume.
Zwischen den Bäumen stand Dianne.
Sie war auf der gegenüberliegenden Uferseite aufgetaucht,
fünf Meter von uns entfernt. Eine Brise fuhr durch das Laub in
den Bäumen. Dianne stand völlig regungslos, den Kopf leicht
erhoben, das Gesicht im Wind, als nehme sie Witterung auf. Sie
hatte ihren Pfeil wieder gefunden. Er spannte die Sehne des
Bogens, und seine Spitze war auf den Brocken gerichtet.
»Lass sofort meinen Bruder los!«
Ich konnte das Gesicht des Brockens nicht sehen, aber ich
bekam seine Antwort zu spüren. Der Schraubstock wurde noch
fester zugedreht. Ich zappelte schwach, vor meinen Augen
waberte purpurner Nebel. Ich wünschte mir, Dianne würde sich
beeilen. Ich wünschte mir, sie würde den Brocken töten.
»Warum sollte ich ihn loslassen?«, schrillte er.
»Weil ich sonst schieße.«
»Und wenn du deinen Bruder triffst?«
Dianne überraschte sowohl ihn als auch mich. Vielleicht hatte
sie keine Lust dazu, sich auf ein Pingpongspiel von drohenden
Fragen und herausfordernden Antworten einzulassen; oder
vielleicht war sie der Meinung, eine einzige Warnung müsse
ausreichen

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