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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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um deutlich zu machen, dass sie es ernst meinte.
Etwas sirrte. Ich hörte ein erschrecktes Aufstöhnen und fühlte,
wie der Klammergriff um meinen Hals sich lockerte. Luft
schoss pfeifend in meine brennenden Lungen, ich stolperte zur
Seite, und als der Nebel vor meinem Blick sich lichtete, fiel
mein Blick auf den Brocken. Von seinen Fingern tropfte es rot
ins Wasser. Ungläubig starrte er den Pfeil an, der in seinem
lahm herabhängenden linken Arm steckte, als erwartete er, dass
ein Marionettenspieler einen Faden daran knote und ihn in
Bewegung versetze.
Plötzlich stand Dianne neben mir und drückte mir einen Stein
in die Hand. Er war nass. »Hier«, sagte sie ruhig.
Als hätte sie damit das Signal zum Angriff gegeben, stürmten
die übrigen Kinder schreiend auf uns zu. Der Stein setzte den
ersten Angreifer sofort außer Gefecht. Ich sah sein erstauntes
Gesicht, als ich ihm damit gegen die Schläfe schlug, dann ging
die Welt unter in Kreischen und Kratzen, Schlagen, Boxen und
Treten. Ich hatte keine Angst mehr davor, im Gegenteil, ich
wollte den Kindern wehtun, und so schlug ich blind um mich,
von einem berauschenden, brausenden Schwindelgefühl erfasst.
Wann immer ich auf Widerstand traf, stieß ich einen
triumphierenden Schrei aus. Dianne tat es mir gleich, sie
fauchte wie eine Wildkatze und schlug dabei mit ihrem Bogen
nach links und rechts. Erst als meine Fäuste mehrmals
hintereinander nur noch ins Leere getroffen hatten, bemerkte
ich, dass unsere Angreifer sich zurückgezogen hatten. Nachdem
ich tief Luft geholt hatte, sah ich» warum.
Einer der Jungen, ein Kerl mit stoppeligen roten Haaren und
grünen, fast wimpernlosen Augen, hielt plötzlich ein
aufgeklapptes Taschenmesser in der Hand. Ich konnte nicht
glauben, dass er es tatsächlich benutzen wollte – seine ganze
Körperhaltung, vor allem aber sein wie vor sich selbst
erschreckter Blick sprachen dagegen, beides drückte Zögern
und Umkehr aus. Doch etwas in ihm hatte den Stich längst
ausgeführt. Wie eine einmal in Gang gesetzte Maschine, die
sich nicht mehr abstellen lässt, machte er zwei unerwartet
schnelle, tänzelnde Schritte in Diannes Richtung.
»Nicht!«, rief ich.
Das Messer zuckte. Unmittelbar neben dem Träger von
Diannes Kleid bohrte sich die funkelnde, fünf oder sechs
Zentimeter lange Klinge bis zum Heft in ihre Schulter. Es gab
ein hässliches kurzes Geräusch, als steche man mit einer Gabel
in eine zu hart gekochte Kartoffel.
»Scheiße!«, hörte ich jemanden keuchen. Der stoppelhaarige
Junge trat zurück. Er hob hilflos beide Hände.
Diannes Augen verengten sich. Auf ihrer Stirn erschien eine
steile Falte, als suche sie die Antwort auf eine besonders
schwierige Frage. Ihre rechte Hand hielt noch immer den
Bogen, die linke tastete erstaunt nach der verletzten Schulter,
die Finger schlossen sich um den Griff des darin feststeckenden
Messers.
»Dianne«, flüsterte ich, denn ich sah, dass sie die Hand in
einem falschen Winkel hielt, aber meine Warnung kam zu spät.
Sie riss sich das Messer aus der Schulter, nicht der Richtung
folgend, in der es eingedrungen war, sondern von der Seite her,
bis dicht zum Hals hin. Ihr Fleisch klaffte auseinander wie ein
aufplatzender Granatapfel, der seine hellroten Kerne ausspuckt.
Dianne öffnete die Hand und ließ das Taschenmesser in den
Fluss fallen. »Das tut nicht weh, Phil«, sagte sie.
»Die ist… «
»Ohhh…«
»Weg hier!«
Die unerwartete Verletzung des Brockens hatte die Kinder
angezogen wie ein mächtiger Magnet; Diannes blutende Wunde
stieß sie mit derselben Kraft wieder ab. Aufgeregte Schreie
ertönten, Wasser spritzte auf, wirbelnder Sand und Staub stoben
in die Luft. Dann hetzten die Kinder, den willenlosen Brocken
an seinem gesunden Arm hinter sich herziehend, über den
Hügel. Innerhalb von Sekunden war der Spuk vorüber, die
Geister waren verjagt.
Dianne sah zum Hügel hinauf, auf dessen Spitze das grelle
Sonnenlicht unsere Angreifer verschluckt hatte. »Ich brauche
einen neuen Pfeil«, sagte sie. »Er hat ihn mitgenommen. Er
gehört mir.«
»Du blutest, Dianne! Wir müssen nach Hause.«
»Weißt du was, Phil?«
»Dianne, wir -«
»Nächstes Mal nehme ich mein Messer mit.«
Sie sprach leise. Sie war sehr blass. Ihr Kleid sah aus, als wäre
über die ganze Vorderseite Erdbeersoße geschüttet worden. Bis
wir Visible erreicht hatten, konnte sie kaum noch laufen. Ich
stützte sie und beschmierte mich dabei mit ihrem Blut.

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