Andreas Steinhofel
Unentwegt flüsterte ich sinnloses Zeug, Worte der Beruhigung,
mehr für mich bestimmt als für sie. Dianne stolperte auf die
Verandatreppen zu, auf der untersten Stufe sackte sie in sich
zusammen und blieb dort sitzen. Ich hatte schon während der
letzten Meter begonnen, nach Glass zu schreien. Als sie aus
dem Haus gestürmt kam, erfasste sie die Situation mit einem
Blick.
Ich ruderte hilflos mit den Armen. »Wir sind -«
»Erzähl es mir später. Dianne, steh auf, sofort ins Auto, mach
schon – Phil, Phil, komm her.« Sie zerrte mir mein T-Shirt über
den Kopf. »Drück ihr das auf die Wunde und lass nicht los, bis
wir beim Arzt angekommen sind.«
Glass gab sich alle Mühe, die Fassung zu bewahren, doch ich
spürte ihre unterdrückte Panik; sie sprang auf mich über wie
eine bösartige, ansteckende Krankheit. Der Wagen schoss durch
den Wald und über die Brücke in die Stadt. Obwohl das T-Shirt
unter meiner Hand trocken blieb, wagte ich nicht, es anzuheben.
Nur weil sie mir helfen wollte, dachte ich und hoffte dabei, dass
Dianne, die unbeteiligt geradeaus blickte, nicht auf die Idee
käme, die Augen zu schließen, denn dann würde sie vielleicht
sterben… nein, dann würde sie ganz bestimmt sterben! Auf
meine nackte Brust tropften Tränen, sie kullerten den Bauch
herab und sammelten sich in meinem Nabel.
Wie sich herausstellte, war der Blutverlust weitaus geringer,
als es den Anschein gehabt hatte. Die Wunde war nur dort
wirklich tief, wo das Messer gesteckt hatte, die Klinge, die in
schrägem Winkel eingedrungen war, hatte lediglich
Muskelgewebe durchtrennt.
»Hätte schlimmer ausgehen können, Fräulein«, sagte der Arzt.
»Ein senkrechter Stich, gerade nach unten, und die linke Lunge
wäre verletzt worden.«
In Diannes Gesicht war endlich Farbe zurückgekehrt, aber
jetzt war ich es, der blass war – ich fühlte mich blass, während
ich gemeinsam mit Glass beobachtete, wie der Arzt mit ruhiger
Hand die Wundränder zusammennähte. Jeden Stich der viel zu
großen, chromglänzenden Nadel, die sich in Diannes betäubte
Haut bohrte, spürte ich, als gelte er mir selbst.
Diannes Schulter wurde verbunden, Glass wechselte einige
Worte mit dem Arzt, dann fuhren wir zurück nach Visible. Im
Kaminzimmer setzte sie sich mit uns vor die kalte, offene
Feuerstelle. Dianne rollte sich in ihrem Schoß zusammen und
schloss die Augen, ich kuschelte mich an ihre Seite. Glass
streichelte uns über die Haare.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
Ich erzählte es ihr. Sie hörte zu, ruhig und ohne mich mit
Vorwürfen zu unterbrechen, wie ich eigentlich erwartet hatte.
Nur dann und wann gab sie kleine, zustimmende Laute von
sich. Sie glichen dem leisen, unterdrückten Stöhnen, das
manchmal nachts aus ihrem Zimmer drang, wenn sie Besuch
von einem Mann hatte.
»Gut«, sagte sie, als ich meine Erzählung beendet hatte. »Ihr
habt euch gewehrt, das war völlig richtig. Wir sind niemandem
Rechenschaft schuldig. Niemandem. Habt ihr das verstanden?«
Ich hatte nichts verstanden, doch ich nickte ernst. Von Dianne
kam keine Antwort, vielleicht war sie eingeschlafen, vielleicht
war sie einfach zu erschöpft. Ich musterte ihr Gesicht, die
schwarzen, verschwitzten Haare, die ihr in der Stirn klebten.
Dann fiel mir die Frage ein, die mir seit Stunden durch den
Kopf geisterte. »Glass«, sagte ich, »was ist eine Dreckfotze?«
DIE EREIGNISSE DIESES TAGES bildeten,
paradoxerweise, den Auftakt zu der lang anhaltenden Hassliebe
zwischen Glass und den Jenseitigen. Am späten Abend, Dianne
und ich hatten uns gerade die Schlafanzüge angezogen, klopfte
es energisch an der Haustür. Glass öffnete, wir versteckten uns
schüchtern hinter ihrem Rücken. Draußen stand eine kleine,
drahtige Frau mit ungepflegten Haaren, die ihr strähnig in die
Stirn hingen. Ihr Gesicht war scharfkantig. Sie trug ein billiges
Sommerkleid.
»Ihre Tochter hat meinen Sohn verletzt!«, fuhr sie Glass
aufgebracht an. Die schrille Stimme, die der Brocken von ihr
geerbt hatte, zitterte. »Dafür zeige ich Sie an, das hätte schon
längst jemand tun sollen, Sie -«
»Dreckfotze?«, fragte Glass ruhig. »Haben Sie Ihrem Sohn
dieses Wort beigebracht? Mein Sohn hat mich vorhin gefragt,
was es bedeutet. Möchten Sie es ihm erklären?«
Sie wartete die Antwort der verblüfften Frau nicht ab, sondern
winkte Dianne vor sich und zog ihr das Oberteil des Pyjamas
über den Kopf. Mit flinken Fingern löste sie den
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